Dr. Henning Dickten, Comma Soft: „Wir haben jetzt das Weltwissen in der Hosentasche“

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Henning Dickten, comma
Dr. Henning Dickten: "Die Einstiegshürde für KI-Technologien ist niedrig wie nie zuvor." (© privat / Hintergrund: baona von Getty Images / Canva)
Dr. Henning Dickten verantwortet bei dem Unternehmen Comma Soft den Bereich Pharma & Life Science Consulting. Er beschäftigt sich u.a. mit generativer KI und erklärt im Interview, warum noch viele Pharmaunternehmen bei dem Thema Vorsicht walten lassen und wie ein sinnvoller und effektiver Einsatz das Pharmamarketing voranbringen kann.

In diesem Beitrag lesen Sie:

  • welchen Stellenwert die generative KI derzeit im Pharmamarketing einnimmt und warum viele Pharmamfirmen noch vorsichtig sind
  • welche Lösungen bereits im Einsatz sind
  • wie Erfolgsmessungen in diesem Bereich gestaltet werden können
  • wo die Grenzen der Technik liegen
  • wie kleinere Unternehmen ohne eigene KI-Abteilung nicht abgehängt werden
  • wie sich das Marketing verändern wird und wie Pharma darauf reagieren sollte

Health Relations: In den letzten Jahren hat sich im Pharmamarketing viel getan. Was sind für Sie die wichtigsten Veränderungen?

Dr. Henning Dickten: Eine der größten Veränderungen ist die Verfügbarkeit von umfangreichen Interaktionsdaten, die es uns ermöglicht, sehr präzise Personas zu erstellen. Das heißt, wir können genau bestimmen, wer unsere Zielgruppe ist, welche Informationen sie interessiert und wie oft diese genutzt werden. Dadurch haben wir eine fundierte Datenbasis, die es uns erlaubt, die Werbewirksamkeit zu analysieren und individuelle Informationen gezielt bereitzustellen. Insbesondere hier sehe ich große Potenziale für den Einsatz generativer KI-Systeme. Ein weiteres wichtiges Stichwort ist „Omnichannel“. Hier geht es darum, verschiedene Kommunikationskanäle nicht mehr isoliert zu betrachten, sondern sie als ein großes Ganzes zu sehen. So kann man die Customer Journey entlang dieser Punkte verfolgen und analysieren, wo gute Einstiegspunkte liegen und wo Absprungpunkte sind.

Health Relations: Das klingt nach einem umfassenden Ansatz. Aber wo stehen wir denn aktuell in Bezug auf diese Entwicklungen? Vor allem im Hinblick auf generative KI hört man ja oft, dass noch viel Zukunftsmusik dabei ist. Wie sehen Sie das?

Dr. Henning Dickten: Ich denke, viele sind noch vorsichtig, insbesondere aus Angst vor Datensicherheitsproblemen. Es gibt die Sorge, dass sensible Informationen an die Öffentlichkeit gelangen könnten. Ich habe dazu auch eine Studie gelesen, die genau diese Angst betont. Viele Unternehmen haben generative KI ausprobiert, fanden die Ergebnisse aber noch nicht zuverlässig genug und haben das Thema deshalb erst einmal auf Eis gelegt. Ich glaube, die Erwartungen waren anfangs hoch, aber jetzt warten viele ab, wie sich die Technologie weiterentwickelt.

„Generative KI kann sicherlich gute Mitarbeiter:innen noch besser machen, aber sie ersetzt nicht die grundlegende Arbeit, die zunächst geleistet werden muss.“

Health Relations: Ja, es scheint, als sei die anfängliche Begeisterung ein wenig abgeflaut. Würden Sie sagen, dass generative KI trotzdem in bestimmten Bereichen bereits einen Mehrwert bietet?

Dr. Henning Dickten: Absolut. Generative KI kann sicherlich gute Mitarbeiter:innen noch besser machen, aber sie ersetzt nicht die grundlegende Arbeit, die zunächst geleistet werden muss. Die Informationsquellen, die man für KI-Anwendungen nutzt, müssen von hoher Qualität sein. Andernfalls werden da darauf basierenden KI-Systeme auch nur Ergebnisse minderer Qualität liefern können. Aktuell ist wie der Schritt von der Einführung von Smartphones: Wir haben jetzt das Weltwissen in der Hosentasche, aber die Fähigkeit, diese Informationen zu bewerten und sinnvoll zu nutzen, muss erst erlernt werden. Ähnlich ist es bei KI-generierten Inhalten. Man muss lernen, den Schritt vom eigenen Kreieren zum Verifizieren generierter Informationen zu vollziehen und die Grenzen dieser Systeme gut zu kennen.

Health Relations: Gibt es konkrete Lösungen, die bereits im Einsatz sind?

Dr. Henning Dickten: Es gibt verschiedene Ansätze, die bereits eingesetzt werden. Ein vielversprechender Bereich ist die Kombination von großen Sprachmodellen mit Wissensdatenbanken, einem sogenannten „Knowledge Management“. Hierbei werden verifizierte Informationen bereitgestellt, um spezifische Fragestellungen in einem zur Verfügung gestellten Kontext beantworten zu können. Das ist besonders nützlich, um zielgruppengerechte Texte zu verfassen oder interaktive Chatbots, die auf Unternehmenswissen zugreifen sollen, zu entwickeln. Diese Technologien können zum Beispiel in der Schulung von Außendienstmitarbeitern oder in der Patientenkommunikation eingesetzt werden.

Health Relations: Das klingt spannend, besonders im Hinblick auf die Personalisierung von Inhalten, aber wie kann man den Erfolg solcher Maßnahmen messen?

Dr. Henning Dickten: Erfolgsmessung ist in diesem Bereich oft komplex. Eine Möglichkeit ist das klassische A/B-Testing, bei dem unterschiedliche Ansätze getestet und deren Ergebnisse verglichen werden. Besonders in regulierten Bereichen wie dem Pharmamarketing, wo direkte Werbung oft eingeschränkt ist, ist es schwierig, direkte Effekte zu messen. Allerdings kann man Modellierungen verwenden, um den Erfolg zu bewerten, indem man den tatsächlichen Absatz mit dem modellierten, erwarteten Absatz vergleicht. Bei Online-Inhalten kann man Erfolg durch Klickraten und Konversionsraten messen.

Grenzen der Technik nicht aus den Augen verlieren

Health Relations: Könnten Sie zusammenfassen, wo Sie die Grenzen der Technik sehen? Wo kann Technik bestimmte Dinge nicht ersetzen?

Dr. Henning Dickten: Im Kontext des Heilmittelwerbegesetzes muss die Genauigkeit der Informationen absolut gewährleistet sein. Gerade bei generativer KI besteht die Gefahr von „Halluzinationen“ – falschen Inhalten. Auch wenn technische Prozesse zur Plausibilitätsprüfung eingeführt werden können, bleibt der Mensch für die finale Kontrolle unerlässlich, besonders bei sensiblen Themen wie Medical Writing oder Verträglichkeitsstudien.

Health Relations: Wie kann man solchen Gefahren begegnen?

Dr. Henning Dickten: Die Gefahr besteht, sich zu sehr auf die Technik zu verlassen. Es ist wichtig, automatische regelmäßige Überprüfungen der generierten Inhalte in den Prozess zu integrieren. Die menschliche Rolle verschiebt sich von der Erstellung zur Verifikation und Verantwortung. Solange die Technik nicht perfekt ist, bleibt menschliche Kontrolle unverzichtbar.

Health Relations: Was ist mit kleineren Unternehmen, die sich keine eigene KI-Abteilung leisten können?

Dr. Henning Dickten: Die Einstiegshürde für KI-Technologien ist niedrig wie nie zuvor. Auch kleinere Unternehmen können profitieren, wenn sie sich mit den Technologien auseinandersetzen und professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. Es ergibt meiner Meinung nach keinen Sinn, alle anfänglichen Fehler selbst zu machen. Es gibt Anbieter, die spezialisierte, zugängliche Lösungen anbieten. Es geht darum, das Wissen im Unternehmen zu integrieren und richtig zu nutzen.

Health Relations: Ist es dennoch für alle Unternehmen zwingend notwendig, sich mit diesen Technologien zu beschäftigen?

Dr. Henning Dickten: Ja, die technologische Entwicklung schreitet schnell voran. Wer zu lange wartet, riskiert, den Anschluss zu verlieren. Eine gesunde Neugier und Offenheit gegenüber neuen Technologien sind heute essenziell.

„Sprachmodelle ändern das Nutzerverhalten“

Health Relations: Sie haben erwähnt, dass sich das Marketing durch KI verändern wird. Können Sie das näher erläutern?

Dr. Henning Dickten: Das klassische Marketing wandelt sich von einer generischen Informationsverbreitung hin zu individueller Ansprache. Sprachmodelle ändern das Nutzerverhalten, da Nutzer zunehmend automatisiert erzeugte Texte konsumieren, anstatt Webseiten zu besuchen. Das erfordert ein Umdenken bei der Erstellung und Verbreitung von Inhalten, besonders in Bezug auf SEO.

Health Relations: Wie sollten Pharmaunternehmen darauf reagieren?

Dr. Henning Dickten: Unternehmen müssen sich anpassen und neue Technologien nutzen, um relevant zu bleiben. Der Wechsel von Push- zu Pull-Marketing, bei dem Nutzer gezielt nach Informationen suchen, wird zentral. Sie müssen ihre Inhalte so gestalten und bereitstellen, dass sie in den neuen automatisierten Kontexten Einzug halten und bestehen können.

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