Positionierungsforschung: Wie nimmt der Arzt ein Präparat wahr?

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Ulrike Dulinski, IFAK
Dr. Ulrike Dulinski, IFAK: "Der pharmazeutische Außendienst spielt für die Präparatekommunikation nach wie vor eine entscheidende Rolle." © privat
Ohne Positionierung im Markt gibt es keine erfolgreiche Marke. Doch wie erreicht man das als Pharmaunternehmen und welche wissenschaftlichen Erkenntnisse können auf dem Weg dahin helfen? Dr. Ulrike Dulinski, Head of Health & Pharma, IFAK Institut GmbH & Co. KG, betreibt Positionierungsforschung und weiß darauf ein paar Antworten.

In diesem Beitrag lesen Sie:

  • Was Positionsforschung macht und wie sie sich auf das Pharmamarketing auswirkt
  • Wie die Positionierungsforschung Auskunft über das Verhälntnis von geplanter und tatsächlicher Kundenwahrnehmung einer Marke gibt
  • Mit welchen Methoden Pharmafirmen erfahren, wie ein Produkt im Markt positioniert ist
  • wie man am ehesten für jedes Präparat eine genaue wahrgenommene Positionierung feststelllen kann
  • welche aktuellen Trends es in der Positionierungsforschung gerade gibt, die auch das Marketing betreffen

Health Relations: Was macht die Positionierungsforschung?

Dr. Ulrike Dulinski: Ich würde gern zunächst darauf eingehen, was eigentlich „Positionierung“ ist. Mit der Positionierung prägt man eine Marke; ohne klare Positionierung kann kein Markenkern, keine Markenwelt aufgebaut werden. Dies gilt für alle Unternehmen, die ein Produkt oder eine Dienstleistung am Markt anbieten. Auch im Pharmamarkt ist die Positionierung von Arzneimitteln, Medizinprodukten oder Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) eine der zentralen Faktoren für ein erfolgreiches Marketing der vertreibenden Unternehmen.

Health Relations: Wie positioniert das Pharmamarketing die Unternehmensprodukte erfolgreich?

Dr. Ulrike Dulinski: Idealerweise lässt sich die angestrebte Positionierung in einem Claim, einer Value Proposition zusammenfassen, die dann die Grundlage für alle weiteren Marketing-Komponenten, die vier Ps im Marketing-Mix: product, promotion, price, place, sein sollte.

„Ein modernes Verständnis von Kommunikation besagt, dass es nicht darauf ankommt, was kommuniziert wird, sondern ob und wie es verstanden wird.“

Health Relations: Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

Dr. Ulrike Dulinski: Machen wir es konkret und plakativ zunächst mit Hilfe bekannter Automarken. BMW hat seit Jahrzehnten erfolgreich und kontinuierlich eine Positionierung, die man in dem Label „Freude am Fahren“ ausdrücken kann. Audi verwendet seit Jahrzehnten den Claim „Vorsprung durch Technik“. Die Gründer von Volvo erklärten: „Autos werden von Menschen gefahren; der Leitgedanke hinter allem, was wir bei Volvo machen, ist und bleibt daher – Sicherheit.“ Ohne Marketingexperte sein zu müssen, wissen wir, dass bei den drei genannten Marken auf Basis dieser Claims jeweils eine völlig andere Produktwelt und Produktkommunikation besteht und völlig andere Zielgruppen angesprochen werden. Eine erfolgreiche Positionierung führt dazu, in den Augen der relevanten Zielgruppen als einzigartig, anders und in bestimmten Bereichen relevanter als die Mitbewerber wahrgenommen zu werden, was in der Konsequenz zu einer besseren Markenbekanntheit, höheren Kundentreue und letztlich zu Umsatzsteigerungen führt.

Health Relations: Und was ist nun das Besondere an der Positionierungsforschung?

Dr. Ulrike Dulinski: Ein modernes Verständnis von Kommunikation besagt, dass es nicht darauf ankommt, was kommuniziert wird, sondern ob und wie es verstanden wird. Der Platz, wo sich ein Produkt in der Gedankenwelt der Kunden befindet, ist abhängig von Interpretation und Bewertung, also subjektiven  – rationalen und emotionalen – Wahrnehmungsfaktoren, die das Kundenverhalten entscheidend beeinflussen und nie „falsch“ sein können. Bei der Positionierungsforschung müssen daher immer zwei Perspektiven berücksichtigt werden: die vom Marketing geplante und in der Kundenwahrnehmung tatsächlich vorhandene Positionierung meines Produktes oder meiner Dienstleistung. Das Interessanteste und Wichtigste an der Positionierungsforschung ist also der Soll-Ist-Vergleich. Er ist der zentrale Gegenstand der Marktforschung zur Positionierung, um die Treiber ausfindig zu machen, die zu einem Wahrnehmungsgap führen. Die Ergebnisse solcher Forschungen sind dann die Basis für Anpassungen im Marketing im Hinblick auf die perzeptierten Positionierungen.

„Das interessanteste und wichtigste an der Positionierungsforschung ist der Soll-Ist-Vergleich.“

Health Relations: Welche Herausforderungen ergeben sich bei der Positionierungsforschung in der Pharmabranche im Vergleich zu anderen Industrien?

Dr. Ulrike Dulinski: Aufgrund des Werbeverbotes für verschreibungspflichtige Produkte (Rx) an Endverbraucher fokussiert das Pharmamarketing zwangsläufig andere Zielgruppen: medizinische Fachkreise, also Healthcare Professionals. Im OTC-Bereich werden zwar auch Apothekenkäufer im Marketing anvisiert, letztere verlassen sich aber häufig auf die Empfehlung von PTAs oder Apothekern. Im Unterschied zu manchen Konsumgütern muss die Positionierung im Pharmabereich, insbesondere bei Rx- Produkten, mit Quellen belegbar sein. Die Positionierungen im Pharmabereich sind also eher faktenorientiert und selten stark emotional geprägt. „Freiheit und Abenteuer“ spielt bei Positionierungs-Claims und in der Kommunikation für Ärzte über Therapieoptionen eben weniger eine Rolle. Umgekehrt ist aber die Wahrnehmung von Präparaten von vielen auch emotionalen Einflussfaktoren abhängig, und das macht die Positionierungsforschung im Healthcare-Bereich so spannend und herausfordernd, da man eben die unterschwelligen Wahrnehmungsebenen bei vermeintlich sehr rational geprägten Fachzielgruppen herausschälen muss.

Health Relations: Mit welchen Methoden erfahren Pharmafirmen am besten, wie ein bestimmtes Produkt im Markt positioniert ist?

Dr. Ulrike Dulinski: Der Königsweg der Positionierungsforschung besteht nach wie vor aus quantitativen Befragungsansätzen, die gewisse statistische Verfahren und Auswertungsstrategien zulassen. Eines dieser Verfahren ist die Multidimensionale oder mehrdimensionale Skalierung (MDS). Dabei handelt es sich um ein Verfahren der multivariaten Statistik, das darauf abzielt, Objekte – bzw. in unserem Fall Präparate – räumlich so anzuordnen, dass die Abstände zwischen ihnen im Raum den erhobenen Ähnlichkeiten möglichst genau entsprechen. Je größer die Distanz, desto unterschiedlicher sind sie; je näher sie beieinander sind, desto ähnlicher sind sie. Allerdings benötigt man hierfür eine belastbare Samplegröße. Pharmamarktforscher können jedoch ein Klagelied von nur geringen möglichen Fallzahlen singen, und die Tendenz ist weiter sinkend. Ein „n“ von 60 bei Fachärzten lässt uns bereits jubeln.

Health Relations: Gibt es noch weitere Verfahren?

Dr. Ulrike Dulinski: Die sogenannte Korrespondenzanalyse ist auch bei kleineren Samplegrößen anwendbar und kann ebenso die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Produkteigenschaften und Produkten herausarbeiten und visuell darstellen. Zusätzlich zu diesen Ansätzen liefert die qualitative Forschung methodische Ansätze, die die eher unterschwelligen Images und gefühlsmäßig abgespeicherten Produkteigenschaften transparent machen. Projektive Testverfahren oder auch Provokationsmethoden bieten sich hier an. Entscheidungen für das eine oder andere Präparat im Bereich der Medizin hängen im Vergleich zu anderen Produkten nicht oder nicht nur von den „Kopf-und-Bauch-Positionierungen“ und den individuellen Vorlieben des Arztes/ der Ärztin ab, sondern von vielen situativen Faktoren, wie der individuellen Patientengeschichte, aber auch den Außendienstkontakten oder der Kommunikation zwischen Arzt und Patient.

„Sobald man Ärzten die Gelegenheit bietet, über Patientenfälle zu sprechen, fühlen sie sich wohl.“

Health Relations: Mit welchem Verfahren machen Sie aktuell die besten Erfahrungen?

Dr. Ulrike Dulinski: Ein dritter Ansatz besteht daher in der eher indirekten Messung der Positionierung von Präparaten mittels Patientenfalldokumentation, mit dem wir seit einigen Jahren sehr gute Erfahrungen gemacht haben. Hierbei lässt man HCPs einfach erzählen bzw. dokumentieren, warum sie sich in der letzten Konsultation mit einem spezifischen Patienten für Präparat X, Y oder Z entschieden haben. Sobald man Ärzten die Gelegenheit bietet, über Patientenfälle zu sprechen, fühlen sie sich wohl: Das ist gelerntes Verhalten, alltägliche Praxis und entspricht ärztlichem Berufsethos. In dem Moment, in dem der Arzt die Gelegenheit zur Patientenfalldokumentation bekommt, fühlt er sich komplett in seiner Rolle als Arzt. Und dieser Moment sollte ohne Interviewereinfluss genutzt werden.

Health Relations: Welche Handlungsanweisungen würden Sie aus dieser Erkenntnis schlussfolgern?

Dr. Ulrike Dulinski: Es ist ratsam, eine Audio-Dokumentation zur ermöglichen, ohne dass der Arzt etwas tippen muss. Per Handy oder online. Ein Zeitfenster von 90 Sekunden ist zumeist ausreichend, um fallbezogen die diversen Gründe für die Therapiewahl für einen spezifischen Patientenfall zu erläutern. In der Analyse ergibt sich dann im besten Fall für jedes Präparat ein genaues Porträt, eine genaue wahrgenommene Positionierung, die auf signifikanten (Verwendungs-)Unterschieden zu den Mitbewerbern beruht und deutlich verhaltensorientierter, damit authentischer, valider und detailreicher als so manche Ergebnisse sonstiger „direkter“ Positionierungsstudien ist.

Welche Rolle spielt die Wettbewerbsanalyse bei der Positionierung eines neuen Medikaments oder einer neuen pharmazeutischen Marke?

Dr. Ulrike Dulinski: Eine immens hohe, da nur darüber eine Abgrenzung vom Mitbewerber möglich ist. In der Positionierungsforschung werden eigentlich immer alle als relevant angesehenen (Haupt-)-Mitbewerber miterfasst. Wo ist mein USP im Konzert der Mitbewerber? Will ich in dieselbe Richtung marschieren und besser werden, oder will ich mich bewusst davon abgrenzen? Um diese zentralen Fragen beantworten zu können, muss ich natürlich wissen, wo die Mitbewerber im Markt stehen und in den Köpfen der Hauptzielgruppen verankert sind. Außerdem sollten die Forscher auch zusätzlich relevante marktdynamische Fakten berücksichtigen: Gibt es neue Mitbewerber mit ungewöhnlicher Positionierung im Markt? Welche potentiellen Mitbewerber befinden sich in der Forschungspipeline und werden ggf. in 1 Jahr auf den Markt kommen? HCPs erfahren von solchen Kandidaten oft recht früh über Kongresse und Fortbildungen. Haben andere Mitbewerber vielleicht ihre Applikationsformen verändert – von intravenös zu subkutan, von Injektion zu oral, von Tablette zu Pflaster usw.? Gibt es gesundheitspolitisch relevante Vorgaben, die die Erstattungsmöglichkeiten von Mitbewerbern beeinflussen? Gibt es Lieferschwierigkeiten von relevanten Mitbewerbern? Es ist also im Rahmen der Positionierungsforschung ein Rundum-Verständnis des Marktes erforderlich.

„Der pharmazeutische Außendienst spielt für die Präparatekommunikation nach wie vor eine entscheidende Rolle.“

Health Relations: Welche aktuellen Trends sehen Sie in der Positionierungsforschung, die sich auch auf das Pharmamarketing auswirken könnten?

Dr. Ulrike Dulinski: Hierzu möchte ich auf zwei Dinge aufmerksam machen. Im Zusammenhang mit Produktwahrnehmung bzw. Verordnungsentscheidungen wird neuerdings auch in der Pharmaforschung das Konzept der „mentalen Verfügbarkeit“ diskutiert und verwendet. Es geht auf den Marketingwissenschaftler Byron Sharp zurück und besagt im Kern, dass statt bewusster, rationaler Entscheidungen aufgrund von Produktmerkmalen vielmehr Assoziationen und gedankliche Verknüpfungen mit einer Marke eine entscheidende Rolle spielen. Weiterführend sei hierzu auch auf die Unterscheidung in das semantische und das episodische Gedächtnis verwiesen, denn Markenimages werden durch konkrete Erlebnisse und Gebrauchserfahrungen geprägt, also durch „Episoden“ und „Anekdoten“. Diese Ansätze können dabei helfen, die irrationale Seite der Präparatewahrnehmung noch besser zu erforschen und dem Marketing die Anhaltspunkte zur Finejustierung der Ziegruppenansprache zu liefern. Zum zweiten möchte ich noch auf den Klassiker innerhalb der Positionierungsforschung im Pharmabereich eingehen: die gute alte Call-after-visit Studie (CAV). Der pharmazeutische Außendienst spielt für die Präparatekommunikation nach wie vor eine entscheidende Rolle. CAV-Studien sind eine Form der Nachverfolgung von Arztbesuchen und sie dienen dazu, die Qualität und Effektivität der Interaktion zwischen Pharmavertreter und HCPs zu bewerten. Im Kern geht es darum, möglichst wenige Tage nach dem AD-Besuch zu ermitteln, was der Gesprächspartner behalten hat: Ist der erläuterte Positionierungs-Claim hängengeblieben? Welches Bild vom Präparat ist im Kopf des Arztes/ der Ärztin entstanden? Erhoben werden die Daten üblicherweise per CATI (Telefonstudios), was sich aber angesichts des Zeitdrucks beim Erhebungszeitpunkt, der geringen Verfügbarkeit der Ärzte sowie der Kosten als zunehmend unrealistisch darstellt. Erste Versuche mit einem reinen Online-CAV und Chatbots als Interviewpartnern liegen vor. Es bleibt abzuwarten, welche kreativen Forschungslösungen – digital und KI-gestützt, ggf. mit reinen schnellen Audiodaten – vielleicht whatsapp Sprachnachrichten – bald machbar sein werden.

 

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Freie Journalistin im Medizin- und Gesundheitsjournalismus. Für Health Relations berichtet sie über digitale Entwicklungen, Marketing und die neuesten Trends in der Pharmabranche.

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