Die Hamburger Health AG ist Anbieter von IT- und Finanzlösungen für die Dentalbranche – und entwickelt einen Teil ihrer Produkte nach dem Prinzip der "Co-Evolution", also zusammen mit den Zahnärzten. Wie gewinnt das Unternehmen das Vertrauen dieser kritischen Klientel?

Zahnärzte gelten allgemein als schwierige Zeitgenossen, die sich angeblich jeden Einsatz versilbern lassen. "Ich kann in das allgemeine Wehklagen über Zahnärzte nicht einstimmen", sagt hingegen Peter Goldammer, freier Berater für Unternehmens-, Produkt- und Markenstrategien bei der Health AG. Wie er seine Vorstände und die Zahnärzte vom Prinzip der Co-Evolution, also der Zusammenarbeit ohne Entgelt, überzeugen konnte, hat er uns erklärt. Health Relations: Wie entwickelten Sie das Prinzip der Co-Evolution?SaaS steht für „Software as a Service“: Eine bestimmte Software wird vom einem externen Dienstleister betrieben; die Implementierung und der Support wird vom Kunden eingekauft.Peter Goldammer: Ich kam als Berater des Vorstands zur Health AG. Mein erster Auftrag lautete: Wie vermarktet man am besten ein SaaS-Produkt? Ich überzeugte den Vorstand sehr schnell davon, kein Old-fashioned-Marketing zu betreiben – mit austauschbaren Allerweltsprodukten, die durch Marketing nur aufgepeppt werden. Man kann keinen alten Kuchen aus dem Regal nehmen und nur mit etwas Sahne verzieren. Das klappt nicht. Man braucht schon einen frischen Kuchen. Die einzigen, die uns wirklich sagen können, was frische Ideen für eine "Software as a Service" sein könnten, waren die Zahnärzte selbst. Nachdem der Vorstand der Health AG begeistert auf die Idee der Co-Evolution reagierte, kam der nächste Schritt: Wie finden das die Zahnärzte? Bei nächster Gelegenheit, einer Fortbildung für Zahnärzte, haben unsere Vorstände das Thema platziert: Hättet ihr Lust, daran mitzuarbeiten? Und die Antwort war eindeutig: Ja! Denn "die aktuelle Software hat viele Probleme, und wir versuchen seit Jahren, mitzureden, aber es gibt keine spürbare Verbesserung." Da gab es echten Leidensdruck – und den Wunsch, es zusammen besser zu machen. So entstand die Co-Evolution – eine Art der Produktentwicklung, die voraussetzt, dass man sein Gegenüber ernst nimmt und den Nerv hat, zuzuhören. Wir haben das gemacht. Und wir machen das immer noch. Unter dem Leitgedanken: gemeinsam besser werden. Aber – so einfach dieser Rat ist, so wenig wird er befolgt. Um heute ein neues Produkt zu launchen, muss man einen wahnsinnig hohen Aufwand betreiben – und die Gefahr, dass das Produkt komplett an den Leuten vorbeigeht, wird von Jahr zu Jahr größer. Deshalb wird sich die Idee der Co-Evolution durchsetzen. Health Relations: Und wie haben Sie mit der praktischen Einbeziehung angefangen?Peter Goldammer: Im nächsten Schritt sind unsere Mitarbeiter aus dem Business Development zu den Zahnärzten gefahren, haben eine Ideensammlung präsentiert und Feedback eingeholt. Daraufhin sind die Befragten direkt in die Arbeit eingestiegen. Anschließend haben wir die Co-Evolutionäre zu einem ersten Lab eingeladen, die nächste Entwicklungsstufe vorgestellt und wieder Feedback eingeholt. Dann gingen wir wieder an die Arbeit und haben eine neue Version entwickelt. So wollen wir auch weiterhin arbeiten: gemeinsam besser werden. Health Relations: Welche Erfahrungen haben Sie in der Zusammenarbeit mit Zahnärzten gemacht?"Ich kann in das allgemeine Wehklagen über Zahnärzte nicht einstimmen."Peter Goldammer: Viele Kritiker haben am Anfang gesagt: Das kann nicht klappen; Zahnärzte sind gewohnt, für alles, was sie tun, bezahlt zu werden. Wir haben diese Erfahrung nicht gemacht. Wenn es um die Entwicklung besserer Tools für alle geht, sind unsere Co-Evolutionäre bereit, ihren Beitrag zu leisten. Um es klar zu sagen: Ich kann in das allgemeine Wehklagen über Zahnärzte nicht einstimmen. Unsere Partner arbeiten ein ganzes Wochenende hoch engagiert für eine bessere Software, die allen zugutekommt. Wir waren fast ungläubig, weshalb wir bei einem der letzten Workshops schlicht einmal nachgefragt haben, warum sich die Zahnärzte so engagieren. Die große Mehrheit hat geantwortet: Es ist eine gesunde Mischung aus Selbstzweck – ich möchte eine bessere Software haben – und gelebtem Altruismus – ich möchte, dass wir es als Berufsstand in Zukunft einfacher haben. "Man muss sich das Vertrauen der Zahnärzte durch Glaubwürdigkeit, Sachverstand und ehrliche Kommunikation verdienen."Dabei kann ich gut verstehen, dass viele Zahnärzte misstrauisch sind, weil sie die Erfahrung gemacht haben, dass sie bei Dienstleistern einen "Zahnarzt-Aufschlag" zahlen müssen. Man muss sich ihr Vertrauen durch Glaubwürdigkeit, Sachverstand und ehrliche Kommunikation verdienen. Am Anfang mussten wir beweisen, wie ernst wir die Co-Evolution meinen. Aber wenn die Zahnärzte merken, dass es keine Show-Veranstaltung ist, sondern tatsächlich um die Sache geht, dann öffnen sie sich.
Zur Co-Evolution gehört auch eine Community-App.

Die Community-App "Coevo"

Health Relations: Wie hat sich die Co-Evolution seit dem Start entwickelt?Peter Goldammer: Wir haben mittlerweile knapp 580 Co-Evolutions-Partner und suchen immer nach Möglichkeiten, mehr Kontaktpunkte zu finden. Es gibt Pilotpraxen, und wir veranstalten fast monatlich Labs zu unterschiedlichen Themen und für unterschiedliche Zielgruppen. Zusätzlich können unsere Co-Evolutionäre über die Community-App "Coevo" mit uns in Kontakt treten, und es melden sich stetig weitere Partner bei uns, die mit uns zusammenarbeiten möchten. Dabei sind die Hälfte unserer Co-Evolutionäre gar keine Kunden unseres Hauses. Health Relations: Was haben Sie dabei über die Arbeitsumstände des Zahnarztes gelernt?Peter Goldammer: Wir haben im Laufe der Co-Evolution festgestellt: Die beste Hilfe für den Zahnarzt nutzt nichts, wenn in der Praxis das Wissen über bestimmte organisatorische oder kaufmännische Zusammenhänge fehlt, und die ideale Flankierung für eine kluge Software ist ein kluges Schulungsprogramm. Noch schulen wir die Zahnärzte extern auf Seminaren, entwickeln aber parallel ein digitales Schulungsprogramm, das künftig Teil unserer vernetzten Praxissteuerung "Hēa" werden soll. Wir haben das vorher in einem Lab als Thema angeboten, und das hat die Teilnehmer direkt begeistert. Wir hatten das Thema Schulungen zwar schon vorher auf dem Schirm, aber wie wichtig es tatsächlich ist, haben wir erst von unseren Co-Evolutions-Partnern erfahren: Auch die Zahnärzte leiden unter Fachkräftemangel und müssen ihre Mitarbeiter selbst in der Praxis weiterbilden. Auch der Generationswechsel ist ein Thema der Digitalisierung. Es gibt zwar ältere Zahnärzte, die die größten Verfechter der Digitalisierung sind und junge Leute, die sich gar nicht damit anfreunden können, aber man kann schon sagen, dass die neue Generation der Zahnärzte schlicht erwartet, dass nicht-medizinische Projekte digitalisiert werden – davon profitieren wir. Jüngere Partner oder angestellte Zahnärzte kommen lieber in digitalisierte Praxen mit einem hohen Grad an Vernetzung und Mobilität – so wie wir sie bieten.
Health Relations: Warum setzen nicht mehr Unternehmen auf das Prinzip der Co-Evolution, also auf die Einbeziehung des Kunden?Peter Goldammer: Co-Evolution bedeutet auch, dass man nicht mehr der unumstößliche Herrscher über das Produkt ist und bei der gemeinsamen Entwicklung Macht abgeben muss. Menschen merken aber sehr schnell, ob man es ernst meint – und sind doppelt sauer, wenn man es nicht tut; wenn sich das Produkt am Ende gar nicht von anderen unterscheidet und sie auch noch das Gefühl haben, persönlich verhohnepipelt worden zu sein. Das wäre gefährlich. Deshalb scheinen manche Unternehmen davor zurückzuschrecken, aufrichtig zu sein und offen zu kommunizieren.
Das würde unsere Geschäftsleitung nie machen! Die lässt sich doch nicht sagen, was sie tun und lassen soll!
Wir haben auf vielen Kongressen die Co-Evolution vorgestellt, und ich habe bei so einer Gelegenheit auch mal den Vertreter eines kleinen Implantat-Herstellers gefragt: Wäre das nicht auch was für euch? Darauf antwortet er: „Das würde unsere Geschäftsleitung nie machen! Die lässt sich doch nicht sagen, was sie tun und lassen soll!“ Offen zuhören, intelligent nachfragen und mit Menschen in den Dialog treten – das tun verblüffend wenige Menschen. Obwohl der Ratschlag doch so einfach wie überzeugend ist: Hören Sie einfach auf Ihre Kunden! Goldammer_360x300pxPeter Goldammer ist seit 2016 freier Berater der Health AG für Unternehmens-, Produkt- und Markenstrategien. Darüber hinaus arbeitet er als Roman- und Sachbuchautor; sein Roman „Zirkus der Stille“, erschien Anfang 2016 bei Hoffmann und Campe. Als Gesellschafter und Chefkreativer formte Peter Goldammer Scholz & Friends über 20 Jahre zu einer der erfolgreichsten deutschen Werbeagenturen. Seine Arbeiten wurden vielfach prämiert.
Alle Bilder: © Health AG