Oliver Fink, Boehringer Ingelheim: Wie KI das Wissensmanagement in Pharma verändert
Die Pharmaindustrie befindet sich im digitalen Wandel, und Technologien wie künstliche Intelligenz (KI) und modernes Knowledge-Management spielen dabei eine zentrale Rolle. Boehringer Ingelheim ist bei diesen Themen Vorreiter und treibt die Entwicklung neuer Tools voran. Oliver Fink, Leiter Learning, Processes & Digitalization im medizinischen Bereich des Unternehmens, gibt Einblicke in seine Arbeit, zu der die Entwicklung eines Tools gehört, das speziell auf die Verwaltung von Prozesswissen abzielt. Im Interview berichtet er, welche Herausforderungen es dabei zu meistern galt und wie die Zukunft des Projekts aussieht.
Health Relations: Sie arbeiten in der Qualitätsabteilung im medizinischen Bereich bei Boehringer Ingelheim. Kürzlich haben Sie ein Tool zur Wissensverwaltung eingeführt. Können Sie mehr über das Projekt erzählen?
Oliver Fink:Ja, wir haben vor einigen Jahren ein Knowledge-Management-Tool entwickelt, das sich auf Prozesswissen fokussiert. Es begann mit einer SharePoint-Lösung, die wir später auf eine Service-Now-Plattform übertragen haben. Das Besondere daran ist der Recommender Service, also die Integration einer KI, die auf Basis von Klickraten und Keywords Dokumente empfiehlt, die für den jeweiligen Nutzenden relevant sind. Ein KI-gestütztes Tool für effizientes Wissensmanagement.
Health Relations: Wer sind die Hauptnutzer dieses Systems?
Oliver Fink:Rund 7.000 Userinnen und User, die in Bereichen wie klinische Studien, Datenmanagement, Biostatistik, Pharmakovigilanz, Regulatory Affairs, Medical Affairs tätig sind, nutzen das Tool. Es gibt etwa 5.000 Dokumente, sogenannte Knowledge Management Assets – von SOPs (Standard Operating Procedures) bis zu Work Instructions und How-to-Guides.
Health Relations: Was macht dieses Tool so besonders?
Oliver Fink:Ein entscheidender Vorteil ist die Personalisierung. Wenn sich ein Nutzender einloggt, erkennt das System seine Rolle und seinem Standort, sei es als Clinical Trial Manager:in oder in einer anderen Funktion, und zeigt der Person nur die für sie relevanten Informationen. Das spart enorm Zeit und stellt sicher, dass der Nutzende genau das findet, was er für seine Arbeit benötigt.
Health Relations: Wie läuft die technische Umsetzung?
Oliver Fink: Neben der Integration der KI basiert das System auf einem rollenspezifischen Zugang. Das bedeutet, dass jeder Mitarbeiter und jede Mitarbeiterin ein personalisiertes User-Interface hat, das ihm oder ihr relevante Dokumente und Workflows zeigt. Wir haben auch eine Schnittstelle zu unserem Dokumentenmanagementsystem, über die alle neuen Dokumente automatisch in das System einfließen.
Herausforderungen bei der Implementierung und Datenstrukturierung
Health Relations: Welche Rolle spielt künstliche Intelligenz in diesem Projekt?
Oliver Fink:Die KI-Komponente ist zentral. Wir haben mit einem Recommender Service gestartet, der neue Inhalte durchsucht und Keywords aus den Dokumenten extrahiert, um zusammen mit den Clickraten den Nutzern die relevantesten Ergebnisse zu liefern. Mit der Entwicklung von Generativer KI (GenAI) haben wir uns entschieden ein eigenes Large Language Model (LLM) zu entwickeln, um die Suche von Information weiter zu verbessern. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter können damit nicht nur Dokumente per „Stichworte“ suchen, sondern sich mit gezielten Fragen Antworten aus verschiedenen Dokumenten erstellen lassen. Die Antwort enthält auch eine Übersicht der referenzierten Dokumente, an die sich der Mitarbeitende halten muss. Das System basiert ausschließlich auf unseren internen Dokumenten, da wir in einem stark regulierten Umfeld arbeiten. Öffentliche Datenquellen sind ausgeschlossen.
„Die Mitarbeitenden können mit dem Tool nicht nur Dokumente per „Stichworte“ suchen, sondern sich mit gezielten Fragen Antworten aus verschiedenen Dokumenten erstellen lassen.“
Health Relations: Wie lange dauerte die Entwicklung dieser neuen KI-Lösung?
Oliver Fink:Der erste Entwicklungszyklus dauerte etwa drei Monate. In dieser Phase haben wir das System mit rund 1.500 Dokumenten aus dem Bereich Klinische Entwicklung trainiert. Danach folgte eine zweite Pilotphase, die über alle Medizinfunktionen und die 5.000 Assets lief. Diese Phase war äußerst erfolgreich, und das Feedback war überwältigend positiv. Wir sind derzeit dabei, das Large Language Model in unser reguläres Knowledge-Management-Tool zu integrieren. Die Implementierung läuft auf Hochtouren, und wir planen, das System Anfang 2025 vollständig live zu schalten.
Health Relations: Sie haben sicher viel gelernt, gerade was den Umgang mit der KI betrifft. Welche Herausforderungen gab es?
Oliver Fink:Eine der wichtigsten Lektionen war, wie man die richtigen Fragen stellt. Das System funktioniert am besten, wenn Nutzende klar definieren, wer sie sind und was sie suchen. Einfach nur eine Frage in den Raum zu werfen, bringt selten die gewünschten Ergebnisse. Deswegen schulen wir unsere Mitarbeitenden jetzt auch in der richtigen Nutzung des Systems.
„Der Erfolg war wirklich überraschend, vor allem, weil selbst konservative Stakeholder sehr positives Feedback gegeben haben.“
Health Relations: Gab es etwas, was Sie während des Projekts überrascht hat, und haben Sie sich von Ideen verabschiedet, die nicht funktioniert haben?
Oliver Fink:Der Erfolg war wirklich überraschend, vor allem, weil selbst konservative Stakeholder sehr positives Feedback gegeben haben. Im Laufe des Projekts wurde auch klar, wie sehr die Mitarbeitenden schnelle Informationen benötigen, besonders bei Aufgaben, die sie nicht regelmäßig ausführen. Wir haben herausgefunden, dass die spezifische Suche nach Informationen besonders hilfreich ist. Zum Beispiel, wenn ein Mitarbeitender eine Aufgabe nur alle zwei bis drei Jahre erledigt, benötigt die Person sehr schnell Zugriff auf die richtigen Informationen. Wir hatten verschiedene Ansätze, aber anhand des Feedbacks wurde klar, dass die spezifizierte Suche der richtige Weg ist.
Health Relations: Gab es Herausforderungen, bei denen Sie gemerkt haben, dass die ursprüngliche Herangehensweise noch verbessert werden muss?
Oliver Fink:Eine Herausforderung besteht darin, dass unsere Daten nicht in strukturierter Form vorliegen. Unsere SOPs sind zumeist Word-Dokumente oder PDFs, was das Parsen und Strukturieren der Daten erschwert. Tabellen oder Flussdiagramme sind besonders problematisch. Wir überlegen, wie wir Prozesse zukünftig so dokumentieren können, dass die Daten bereits in strukturierter Form vorliegen. Das würde viele dieser Herausforderungen lösen.
Zukünftige Entwicklungen und die Rolle der Branche
Health Relations: Glauben Sie, dass sich die Branche weiter in diese Richtung entwickelt und Standards für die Strukturierung von Daten setzt?
Oliver Fink: Absolut. Es gibt bereits Lösungen, Prozesse stärker zu standardisieren, etwa durch „Structured Authoring“; für bestimmte Bereiche wie klinische Protokolle oder Labels. Bei SOPs ist das jedoch noch nicht der Fall, da jedes Dokument anders ist und Textelemente nicht wiederholt verwendet werden. Es gibt Bestrebungen mittels Prozessmodellierungen, standardisierte Prozesskarten zu entwickeln, die automatisch textuelle Beschreibungen generieren. Aber ich kenne derzeit keine Pharmafirma, die das umfassend im R&D-Bereich so umsetzt.
„Ein wichtiger Parameter ist der Zugriff und die Verfügbarkeit von Daten in strukturierter Form; wenn die zu evaluierenden Daten in unterschiedlichen Systemen und Formaten vorliegen, müssen diese erst zusammengefügt werden und ggf. bereinigt werden.“
Health Relations: Sie erwähnten bereits, dass andere Unternehmen Interesse an diesen KI-Technologien haben. Sehen Sie Unterschiede in der Umsetzung zwischen großen und kleinen Firmen?
Oliver Fink:Größere Unternehmen haben sicherlich mehr Ressourcen, KI Projekte voranzutreiben. Kleinere Firmen haben vermutlich nicht immer die Kapazitäten, um so viel Manpower und Know-how zu investieren. Ein wichtiger Parameter ist der Zugriff und die Verfügbarkeit von Daten in strukturierter Form; wenn die zu evaluierenden Daten in unterschiedlichen Systemen und Formaten vorliegen, müssen diese erst zusammengefügt werden und ggf. bereinigt werden. Erst dann kann mit der KI unterstützen Analyse begonnen werden. Das Zusammenfügen der Daten aus mehreren Quellen ist einer der Hauptzeit- und Kostentreiber. Ebenfalls ist es immer eine Frage des Management-Commitments, ob man sich auf solche Technologien fokussiert.
Health Relations: Welche Rolle spielt das Marketing in diesen Projekten? Wie könnte es sich durch solche Technologien verändern?
Oliver Fink:Im Bereich Marketing gibt es eigene KI-Initiativen. Unser aktueller Fokus liegt auf der Optimierung interner Prozesse. Marketing spielt in den medizinischen Bereichen, insbesondere in der Zusammenarbeit mit der Medical-Affairs-Abteilung, eine größere Rolle. Es gibt aber sicherlich Potenzial, dass Marketing und andere Bereiche in Zukunft stärker eingebunden werden, wenn es z.B. um studien- und produktbezogene Informationen geht.