Laut Boehringer Ingelheim ist der neue Gebäudekomplex am Standort Biberach das größte interdisziplinäre Entwicklungszentrum für Biotechnologie in Europa. Es soll Forschung und Entwicklung auf höchstem Niveau ermöglichen. Und internationale Fachkräfte nach Baden-Württemberg ziehen.
Dr. Fridtjof Traulsen ist seit dem 1. Juli 2020 Standortleiter für
Boehringer Ingelheim in Biberach, dem größten F&E und Biotechnologie-Standort des Unternehmens weltweit. Er weiß, dass es nicht ganz leicht ist, internationale Fachkräfte nach Biberach zu holen. Dafür, sagt er, müsse man etwas tun. In den Standort investieren, zum Beispiel, um Top-Arbeitsbedingungen bieten zu können. Auch wenn die politische Gesamtlage seiner Meinung nach nicht unbedingt zu Investitionen in den Standort Deutschland einladen würde.
Im Interview verrät er,
- wie sich die strategischen Entscheidungen des Pharmaunternehmens im neuen Entwicklungszentrum widerspiegeln,
- welchen drei großen Herausforderungen die Pharmabranche in Deutschland gegenübersteht,
- wie Boehringer Ingelheim sich mit weiteren Unternehmen in der Region zusammenschliesst, um Fachkräfte für die Region zu begeistern
- wie die Zusammenarbeit am neuen Standort sich verändern wird – und wie das Unternehmen sicherstellen möchte, dass diese Ziele nicht nur Worthülse bleiben.
- welche Rolle das Thema Nachhaltigkeit am neuen Standort spielt,
- was er sich persönlich für die Branche wünschen würde, wenn das Leben ein Wunschkonzert wäre.
Der neuer Standort
Laut Unternehmen ist es das größte interdisziplinäre Entwicklungszentrum für Biotechnologie in Europa: das neue Forschungszentrum von Boehringer Ingelheim in Biberach. Rund 350 Millionen Euro seien nach eigenen Angaben in das neue Entwicklungszentrum geflossen. Auf acht Stockwerken werden künftig rund 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiten. Zusammen, denn Entwicklung, Herstellung und Analytik sind am neuen Standort unter einem Dach vereint. Das Gebäude wurde im Frühjahr 2023 in Betrieb genommen.
Health Relations: Lassen Sie uns mit einer großen Frage starten. Was sind aus Ihrer Sicht aktuell die drei großen Herausforderungen für Pharmaunternehmen in Deutschland?Fridtjof Traulsen: Die pharmazeutische Industrie ist für Deutschland eine Schlüsselindustrie. Leider wird das nicht überall in der Politik erkannt. Das Zweite ist: Wir sind eine hoch innovative Industrie. Wir als Boehringer Ingelheim haben derzeit 4 Breakthrough Treatments in der Pipeline. Diese Innovationen müssen schnell zum Patienten kommen, also schnell in eine Zulassung gehen können. Die Rahmenbedingungen in Deutschland haben sich jetzt aber für die forschende Arzneimittel-Industrie deutlich verschlechtert. Da gibt es zum einen Entwicklungen, die alle Industrien betreffen. Der steigende Energiepreis, zum Beispiel. Aber es gibt eben auch Entwicklungen, die speziell für die pharmazeutische Industrie gelten. Das ist insbesondere die Gesundheitspolitik, die uns letztes Jahr sehr getroffen hat.
Health Relations: Sie sprechen das geänderte AMNOG-Verfahren an. Fridtjof Traulsen: Ja. Wir schaffen etwas, was den Patienten und Patientinnen auch nach allen Bewertungsverfahren einen Mehrwert liefert. Das soll keinen Preisvorteil gegenüber etablierter Therapie mehr bringen. Das ist eindeutig innovationsfeindliche Politik. Das ist eine große Herausforderung für uns. Dann haben wir zudem auch Themen, die uns behindern in der Forschung und Entwicklung. Der Daten-Zugang ist in Deutschland strak erschwert, während das in vielen anderen Ländern einfacher ist. Wir sind ein forschendes Arzneimittel-Unternehmen in der vierten Generation, befinden uns in der digitalen Transformation und diversifizieren weltweit die Lieferketten. Das schaffen nur wenige Industrien, die eine hohe Wertschöpfung haben. Wir sind eine der wenigen Industrien, die das gut schaffen können. Aber wir sollten dabei nicht behindert werden, sondern unterstützt.
"Auf unserer Website titeln wir deshalb selbstironisch: Life takes you to unexpected places."
Health Relations: Boehringer Ingelheim hat sich dennoch dazu entschieden, in den deutschen Markt zu investieren. Das Unternehmen hat laut eigener Aussage das größte interdisziplinäre Entwicklungszentrum für Biotechnologie in Europa eröffnet – und sich damit zukunftsfit gemacht. Wie spiegelt sich das an diesem Ort wider? Fridtjof Traulsen:Das Gebäude ist sinnbildlich für das, was wir als Strategie in Deutschland sehen. Transparenz, Kooperation, ein Bekenntnis zu einem
Standort bei gleichzeitiger globaler Vernetzung und Innovation. Jahr für Jahr reinvestieren wir 25 % unseres Umsatzes in die Forschung und Entwicklung. Das waren im vergangenen Jahr alleine fast 5 Milliarden Euro. In dem neuen Gebäude bringen wir Hightech zusammen mit Arbeitskultur. Wir nehmen Rezepte, die aus dem Start-up und den Technologieunternehmen kommen, mit auf in unsere Unternehmenskultur. Wo früher klassische Büros waren, sind jetzt offene Kollaboration-Spaces und gemeinsame Flächen für die Führungskräfte. Diese Offenheit bei der Arbeitsweise setzt sich auch in der Zusammenarbeit mit externen Kooperationspartner:innen fort. Wir arbeiten viel mit externen Partnern zusammen. 50 % unserer Pipeline hat den Ursprung aus externen Quellen. Das bedeutet, wir haben da entweder Kollaborationen mit Forschungseinrichtungen weltweit oder mit Start-ups, also mit Biotech-Unternehmen.
Health Relations: Ich kann mir vorstellen, dass eine Investition in den Standort Biberach in dieser Höhe und eine Entscheidung für eine Verankerung in einer Region auch von Vorteil sein könnte für die Reputation als Arbeitgeber. Biberach klingt nicht nach einer pulsierenden Metropole, insofern könnte ein modernes Arbeitsumfeld auch dem Employer Branding in die Karten spielen, oder?Fridtjof Traulsen: Ja, es ist eine große Herausforderung, mit dem Standort Biberach internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler anzusprechen. Da muss man sich durchsetzen und Möglichkeiten finden. Auf unserer Website titeln wir deshalb selbstironisch: Life takes you to unexpected places. Was wir hier bieten können, ist am oberen Ende dessen, was wir in der Industrie, Forschung und Entwicklung weltweit vorfinden. Hinzu kommt, dass wir nicht alleine sind. Ich glaube, das ist auch wichtig und das wissen viele nicht: Hier in der Region sind die größten Biotechnologie-Hersteller in Deutschland angesiedelt. Wir organisieren uns zusammen in einem Cluster, in dem wir auch gemeinsam Öffentlichkeitsarbeit und Werbung für Fach- und Führungspersonal machen. Natürlich sind wir Konkurrenten, auch um die Arbeitskräfte. Aber andererseits sind wir ein Leuchtturm. Alle zusammen für Biotechnologie in Deutschland. Das zieht auch Mitarbeitende hierher und wenn sie einmal in dieser lebenswerten Region sind, bleiben sie meistens auch. Das ist sehr wirksam.
Health Relations: Ist der Erfolg der gemeinsamen Maßnahmen messbar? Fridtjof Traulsen:Der wichtigste Punkt ist: Wir kriegen unsere Stellen besetzt.
Health Relations: Welche weiteren Kanäle bespielen Sie, um zum Beispiel die Investition in den Standort auch im Sinne des Personalmarketings und der Talentsuche zu platzieren? Fridtjof Traulsen: Man kann es wahrscheinlich besser etwas allgemeiner beantworten. Wir sind in Social Media aktiv, genauso wie wir unsere Web-Pages und die klassische Pressearbeit nutzen. Wir nutzen beispielsweise
LinkedIn, um zu zeigen, was wir hier tatsächlich tun. Wir nutzen die klassischen Kanäle wie TV und Presse sowie die modernen digitalen Kanäle.
Health Relations: Ihr Unternehmen organisiert sogar Familienfeste. Das könnte die Transparenz nach außen zusätzlich fördern, oder?Fridtjof Traulsen:Ja, die Transparenz ist ganz wichtig. Auch, was unsere Aktivitäten in der Forschung betrifft. Wenn Sie Fach- und Führungskräfte, insbesondere hochrangige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erreichen möchten, müssen Sie klar kommunizieren, wie sich die Pipeline darstellt. Damit der- oder diejenige weiß: Wenn ich dort hingehe, dann erwarten mich spannende Projekte. Was uns aber zusätzlich auszeichnet als Arbeitgeber: Wir sind ein inhabergeführtes Familienunternehmen. Wir haben eine eigene Kultur und das ist wirklich messbar. Dazu gehört eben auch, dafür zu sorgen, dass sich Mitarbeitende und ihre Familien hier wohlfühlen
Health Relations: Kommen wir zurück zum neuen Forschungszentrum. Austausch. Kooperation. Transparenz. Das klingt alles toll. Aber wie stellen Sie sicher, dass all das nicht nur schöne Worthülsen sind?Fridtjof Traulsen:Wir arbeiten immer in interdisziplinären Teams, ein Kernteam von drei Leuten. Heute spricht man von agilem Arbeiten, das ist nichts anderes. Das Spannende ist die Technologie, die das jetzt ergänzt. Ein Beispiel: Heute können Sie unzählige Experimente mit geringem Aufwand in einem sogenannten
Digital Twin machen. Das heißt, Sie haben den Prozess in einen Computer eingeführt und der Computer macht dann eine Simulation, die ihre realen analogen Daten unterstützt.
"Ich würde mir wünschen, dass in Deutschland die Politik auf Pharma setzt als eine Schlüsselindustrie, mit der wir wachsen können. Wir müssen tatsächlich die Innovationsbedingungen in Deutschland verbessern."
Health Relations: Wie schaut es denn beim Thema Nachhaltigkeit aus. Wie spiegelt sich das am neuen Forschungszentrum in Biberach wider und wie wichtig ist das in Ihrer strategischen Kommunikation?Fridtjof Traulsen: More Health. More Potential. More Green. Das sind unsere drei Säulen für die unternehmensweite Nachhaltigkeitsstrategie von Boehringer Ingelheim. Das neue Gebäude ist am ehesten Teil von More Green. Da geht es um CO2-Neutralität. Wir haben schon in der Bauphase für dieses Gebäude mit dem vergleichsweise hohen CO2-Preis pro Tonne in Europa gerechnet, mit 100 Euro je Tonne CO2. Wir haben ein Ziel, und zwar den Standort CO2-neutral zu haben bis 2030. Das ist nicht mehr lange hin. Wir merken, wenn Mitarbeitende zu uns kommen, ist ihnen das wichtig. Aktuell haben wir auch das Thema Wassersparen sehr stark im Blick und haben in vielen Gebäuden die Klimatisierung energiesparend optimiert. Es gibt unzählige Ansätze, die wir bearbeiten. Lange Rede, kurzer Sinn: Das ist sehr wichtig für uns im Unternehmen. Mindestens so wichtig nach innen wie nach außen. Aber es gehört auch einfach in die heutige Welt.
Health Relations: Viele Herausforderungen, wird man da nicht irgendwann müde als Führungskraft? Fridtjof Traulsen:Nein, gar nicht. Ich finde, es ist gerade eine äußerst spannende Phase. Ehrlich gesagt, ist es für uns als Unternehmen ganz besonders toll, weil wir beides haben. Wir haben wirtschaftlichen Erfolg und eine ganz tolle Pipeline, die tatsächlich Medikamente hervorbringt, die bahnbrechende Therapie-Möglichkeiten für Patient:innen sind. Es sind diese Therapie-Durchbrüche, die sehr befriedigen. Und ich bin Chemiker von der Ausbildung her. Wir haben hier einen Standort, der zu 90 % von fossilen Energieträgern abhängig ist und wollen ihn in unter acht Jahren nur noch mit regenerativen Energien betreiben. Das ist einfach eine tolle Herausforderung. Und wenn Sie in einer wirtschaftlichen Situation sind, wo Sie sagen können, ich kann auch Investitionen stemmen, dann ist das nichts, wovor Sie Angst haben müssen. Nur die Rahmenbedingungen sind etwas, wo wir in Deutschland nicht gut sind. Das macht ein bisschen müde.
Health Relations: Was, wenn das Leben ein Wunschkonzert wäre. Was würden Sie sich wünschen?Fridtjof Traulsen: Ich würde mir wünschen, dass in Deutschland die Politik auf Pharma setzt als eine Schlüsselindustrie, mit der wir wachsen können. Wir müssen tatsächlich die Innovationsbedingungen in Deutschland verbessern. Wir müssen Gesundheitspolitik, Industrie- und Innovationspolitik zusammen denken. Das wäre mein Wunsch.