Die Digitalisierung der Healthcare-Branche: Über die Demokratisierung der Medizin, die neue Rolle des Arztes als Dienstleister und was all das mit Gottfried Daimler zu tun hat, spricht Dr. med. Tobias Gantner, Geschäftsführer der HealthCare Futurists in Köln, im Interview mit Health Relations.
Health Relations: Der Titel Ihres Vortrags bei einer Veranstaltung über die Zukunft der Healthcare-Branche Anfang November lautet "Via Dolorosa Digitalis: Der Patient im Mittelpunkt und damit im Weg". Die Digitalisierung ist für die Healthcare-Branche also ein schmerzhafter Prozess. Woran liegt das denn?Dr. Tobias Gantner: Die digitale Transformation ist in der Tat ein schmerzhafter Prozess für die etablierten Strukturen in der Healthcare-Branche und ihre Vertreter. Wir wissen noch immer nicht genau, was Digitalisierung eigentlich bedeutet, sehen aber, dass sie große Veränderungsprozesse auslöst. Eines scheint jedoch klar zu sein: Es ist nicht die Technologie, die im Mittelpunkt steht, sondern das Potential, das sie entfalten kann – im Positiven wie auch im Negativen. Digitalisierung bedeutet daher nicht, von Fax auf E-Mail umzustellen, sondern sich klarzumachen, wie Prozesse und Strukturen sich verändern und dadurch andere Denk- und Handlungsweisen entstehen können. Die digitale Transformation ist weniger das Beherrschen technologischer Fähigkeiten, sondern vielmehr eine gute und verantwortungsvolle Technikfolgeabschätzung.
Gottlieb Daimler hat möglicherweise das Automobil erfunden, um die Pferde überflüssig zu machen, aber was er wirklich bewirkt hat, war eine Veränderung der Mobilität. Ersteres zu wollen entspringt linearem, letzteres vernetztem Denken. Heute haben wir Städte, die um das Automobil herum gebaut sind, und wir sehen, dass sich das Konzept Mobilität erneut verändert.
Die digitale Transformation kann für Transparenz sorgen, wo es früher nur Fremdbestimmung gab. Sie kann Vergleichbarkeit herbeiführen, wo ein Monopol vorherrschte.
In der Medizin zeichnen sich ähnliche Prozesse ab: Technologische Entwicklungen stehen am Anfang. Mit Ausreifen der Technologie wird diese massentauglicher und damit günstiger. Wir sahen das in der Vergangenheit schon häufig: Das Automobil demokratisiert Mobilität, Spotify demokratisiert den Zugang zu Musik, Wikipedia den Zugriff auf enzyklopädisches Wissen. Nun beginnt die Demokratisierung der Medizin. Die ist aber in sich viel komplexer und wird nicht nur demokratisiert, sondern gleichzeitig auch säkularisiert, denn die Medizin ist um einen Heilsagenten, den Arzt, herum gebaut. Lange hatte der Arzt den Nimbus des Halbgottes in Weiß, und es verwundert nicht, dass die moderne Medizin, die sich eigentlich in der Tradition der Aufklärung sehen möchte und sich auch methodologisch so stark abgrenzt von alternativen Heilmethoden, sich nun dennoch auf dieser Via Dolorosa befindet.
Diese Abgrenzung kam um den Preis einer starken inneren Regulierung, einem gildenhaften Umgang miteinander und einem Neglect gegenüber den holistischen Bedürfnissen eines Patienten und dessen Umfeld. Der Servicegedanke hält Einzug in die Medizin und bringt den Arzt in die Position des Dienstleisters. Das Geflecht aus Kassen, Kassenärztlichen Vereinigungen, Apotheken, Pflegenden etc. wird neu gesponnen. Wo es früher nur Fremdbestimmung gab, kann die digitale Transformation für Transparenz sorgen. Sie kann Vergleichbarkeit herbeiführen, wo ein Monopol vorherrschte. Sie kann Modelle der Zusammenarbeit verändern, wo Eminenzbasiertheit an der Tagesordnung war. Sie verschiebt Grenzen der Berufsausübung, wo Systemgrenzen unüberwindbar schienen und sie hinterfragt ein liebgewonnenes Rechtsverständnis, das von Besitzstandwahrung und Verlustängsten gekennzeichnet war. Wenn der Wind der Veränderung weht, bauen die einen Mauern und die anderen Windmühlen.Health Relations: Und nun der Blick auf den Patienten. Im Zeitalter von Storytelling und Patient Experience wird der Patient über alle Kanäle kontaktiert und ist über Google bestens informiert. Ein Ärgernis?
Dr. Tobias Gantner: Es ist ja ein Ärgernis, dass es noch keine Abrechnungsziffer für „Ent-Googeln“ gibt, nicht wahr? Mir ist nicht recht eingänglich, weshalb es ein Ärgernis sein sollte, mit Menschen zu tun zu haben, die im Begriff sind, sich zu ihrer Erkrankung eine Meinung zu bilden und dafür mannigfache Quellen befragen. Es ist ärgerlich, wenn die Zeit nicht zur Verfügung steht oder adäquat entlohnt wird, wenn mit Patienten ein ausführliches Gespräch geführt wird. Das ist aber ein Problem des Systems und nicht der Technologie oder der Digitalisierung. Ich sehe eigentlich eine Aufwertung der sprechenden Medizin durch die digitale Transformation, denn was nur menschlich leistbar ist, wird an Wert zunehmen. Dazu gehören noch immer Empathie, Vertrauen und wertschätzende Fürsorge.
Es ist auch durchaus klar, dass im Internet ein Wildwuchs herrscht an Informationen und es Patienten und wohl auch vielen Ärzten schwerfällt, zu beurteilen, was seriös ist und was nicht. Aber diese Herausforderung haben wir doch seit Anbeginn jedweder Kommunikation. Gelenkte Desinformation ist keine Erfindung der Neuzeit. Insofern ist das doch auch eine Chance für den ärztlichen Beruf, in Zeiten der Unsicherheit Vertrauen zum Patienten aufzubauen und zu halten.
Es scheint auch so zu sein, dass im Zeitalter der digitalen Transformation sich die Art und Weise, wie wir Medien konsumieren und auf welchen Kanälen wir wofür zugänglich sind, verändert. Sicherlich ist das ein Ärgernis für die einen, aber es ist eben auch eine Chance für die anderen. Mindestens seit den Zeiten Homers haben die Leute gerne eine gute Geschichte gehört, und dass wir in unseren Leben Erfahrungen im Sinne einer „User Experience“ aneinanderreihen, ist auch nicht neu. Es ist jedoch konsequent, dass Patienten auf diesen Kanälen angesprochen werden, solange es mit der herrschenden Gesetzgebung konform ist. Ich sehe das eher im Zusammenhang mit dem Plattformgedanken, der gerade weit verbreitet ist. Wer Kunden und Klienten auf seiner Plattform hat, der hat deren Aufmerksamkeit. Das ist ärgerlich für die, die sie nicht haben, aber in einem Zeitalter der Aufmerksamkeitsökonomie ist das durchaus Teil des Instrumentariums.
Health Relations: Angesichts der Informationsflut aus Therapie-Apps, krankheitsspezifischen Fachportalen, Youtube-Channels und sonstigen Informationsangeboten der Pharmaunternehmen – weiß der Patient noch, was gut für ihn ist?
Es grenzt an eine narzisstische Kränkung, wenn wir es als Ärzte intellektuell zulassen, dass ein Algorithmus, ein Computerprogramm uns bei Diagnose und Therapieplanung vielleicht sogar überlegen ist.
Dr. Tobias Gantner: Da haben Sie wohl recht. Wir sollten uns überlegen, ob es nicht reicht, wenn es in Deutschland nur eine Zeitung gibt – alles andere lenkt ja nur ab. Das war natürlich ironisch gemeint! Ich bin mir übrigens nicht sicher, ob hier stets die Pharmaindustrie dahintersteckt. Manche App-Hersteller sind ja durchaus auch anderweitig finanziert, sei es durch staatliche Förderung, durch Investoren oder durch Institutionen der gemeinsamen Selbstverwaltung. Selbstverständlich könnte man einwenden, dass die Medizin ein ganz anderer Bereich sei, der überhaupt nicht vergleichbar wäre. Das entspringt dem Denken, dass es einen Hohepriester der medizinischen Wahrheit gäbe. Wenn das so wäre, dann bräuchten wir keine Qualitätsberichte mehr, keine Leitlinien, keine Evidenzen, denn dann wüssten wir ja, was Wahrheit in der Medizin ist. Dann hätten wir auch eine Antwort darauf, warum in bestimmten Regionen mehr arthroskopiert wird und in anderen Regionen mehr Tonsillektomien stattfinden. Wir hätten auch die Antwort darauf, warum die Weiterbildung nach dem Facharzt so unstrukturiert ist und sich große Korridore an Behandlungsvarianzen auftun. Mir scheint, es gibt diese medizinische Wahrheit gar nicht, und es grenzt an eine narzisstische Kränkung, wenn wir es als Ärzte intellektuell zulassen, dass ein Algorithmus, ein Computerprogramm uns bei Diagnose und Therapieplanung vielleicht sogar überlegen ist.
Dr. Tobias Gantner sprach schon 2015 in einem TED-Talk über die Demokratisierung der Medizin und "Patient Empowerment".
Health Relations: Sie selbst sind Arzt – wie verändert sich die Rolle des Arztes in der Digitalisierung?Dr. Tobias Gantner: Der Arzt muss noch mehr zum Partner des Patienten werden. Dies bedeutet auch, dass er Transparenz aushalten muss, die entsteht, wenn Patienten über das Internet oder andere digitale Kanäle weitere Meinungen einholen. Dies bedeutet, dass er seine Fortbildung überdenken muss, denn er wird verglichen werden mit den Koryphäen seines Faches, die online Sprechstunde halten. Das bedeutet ferner, dass er immer häufiger an Wissensgrenzen stoßen wird, da sich Wissen so stark vermehrt, und dass er dann möglicherweise auch auf Unterstützungssysteme zurückgreifen wird, ohne sich dadurch in seinem Arztsein zurückgesetzt zu fühlen. Das bedeutet, dass er sich als Dienstleister für den Patienten möglicherweise in einigen Bereichen neu definieren und zeitgemäße Angebote machen muss, die in der vermehrt digitalen Lebenswirklichkeit seiner Patienten andernorts bereits Realität sind. Ich würde mal verkürzt behaupten, der Arzt transformiert sich gerade vom Halbgott zum Health Guide. Es ist auch schwierig, in diesem Zusammenhang über den Arzt zu sprechen, wie es auch den Patienten nicht gibt. Die Digitalisierung der Medizin hat bereits begonnen, sie ist nur noch nicht gleich verteilt. Insofern wird es spannend bleiben, wie weit die offizielle Lesart von guter Versorgung der gemeinsamen Selbstverwaltung noch von den aktuellen Patientenbedürfnissen in einer digitalen Welt auseinanderdriften wird, bis sie ihre faktische Legitimierung verliert.
Health Relations: Die digitale Arzt-Patienten-Kommunikation gilt als einer der wichtigen Innovationsbereiche. Kann und sollte die Pharmaindustrie hier aktiv werden?
Themen wie Social Listening oder die Möglichkeiten der Rekrutierung von Patienten für Studien über Social Media stehen erst am Anfang.
Dr. Tobias Gantner: Die Rahmenbedingungen, unter denen die pharmazeutische Industrie auf den Patienten zugehen und welche Kanäle sie nutzen darf, sind ja durchaus klar gesetzlich definiert. Ich denke, Themen wie Social Listening oder die Möglichkeiten der Rekrutierung von Patienten für Studien über Social Media stehen erst am Anfang und stellen interessante Möglichkeiten der digitalen Kommunikation dar. Das Arzt-Patienten-Verhältnis und somit auch die Kommunikation zwischen den beiden halte ich für ein essentielles Bindeglied beim Gelingen der Therapie. Das dort entstehende Vertrauen lässt sich nicht digitalisieren, und die Interaktion sollte störungsfrei zwischen diesen beiden stattfinden. Es ist allerdings spannend, wie diese Kommunikation im Grundsatz in Zukunft stattfinden wird. Die Art wird auch etwas darüber aussagen, wie wichtig der persönliche Kontakt zum Arzt für welche Personen wirklich ist. Im Sinne des Gedankens der Versorgung aus einer Hand, des „Continuum of Care“, könnte eine „ankerarztlose“ telemedizinische Versorgung Hinweise darauf geben, ob wir das Arzt-Patienten-Verhältnis nicht überhöhen. Die entsprechenden Modelle dazu bringen sich gerade in Position, auch wenn sich vielerorten die Immunsysteme der Besitzstandwahrer dagegen rüsten. Meine Vermutung ist, dass der Patient nach dem größten Nutzenzugewinn entscheiden wird. Wer ihm glaubhaft und gefühlt eine bessere Versorgung verschafft, wird das Rennen machen.
Health Relations: Ganz allgemein gefragt, welche Chancen bietet die Digitalisierung den Pharmaunternehmen?
Viele pharmazeutische Unternehmen sind Zaungäste der digitalen Transformation. Die Chance ist "Corporate co-Creative Innovation".
Dr. Tobias Gantner: Die pharmazeutische Industrie hat ja ein Luxusproblem. Die Geschäfte liefen blendend, und es gibt keinen großen Druck, ein neues Geschäftsmodell zu ersinnen oder das alte radikal zu verändern. Insofern sind viele pharmazeutische Unternehmen Zaungäste der Digitalisierung. Sie sind schon mit dabei – aber vor allem, um zu schauen, was andere denn so machen. Digitale Transformation ist in manchen Chefetagen ein Trend, den man eben auch mitmacht, wie man beim Design Thinking mitgemacht hat und beim Lean oder Agile Management. Dennoch ist die DNA vieler Unternehmen eher: „Veränderung ist großartig, so lange für mich alles so bleibt, wie es ist.“ Darüber können auch Corporate-Start-up-Streichelzoos und Acceleratoren nicht hinwegtäuschen. Im Gegenteil, sie richten möglicherweise sogar mehr Schaden als Nutzen an, denn am Ende sind die Start-ups frustriert, weil Big Corporate nicht auf Spur kommt und das Produkt des intellektuell phagozytierten Start-ups weit hinter den eigenen Erwartungen zurückbleibt. Auf der anderen Seite sind Mitarbeiter des Großunternehmens frustriert, weil sie selbst nicht genug Freiraum haben, eigene Ideen zu entwickeln.
Ich denke, die Chance für die Pharmaunternehmen ist "Corporate Co-Creative Innovation“. Das heißt: Traue deinen eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu, dass sie wissen, was der Kunde braucht, und unterstütze sie dabei ohne Angst vor Versagen, genau das umzusetzen. Im besten Sinne ist die Digitalisierung demnach nichts anderes als die Möglichkeit, zwischen den Disziplinen zu wandeln und sich an der Schöpfung neuer Ideen und Produkte direkt zu beteiligten. Manches davon wird dämlich sein, manches disruptiv. Wenn Digitalisierung Demokratisierung ist, dann demokratisiert sie in diesem Zusammenhang auch gerade die Innovation, denn es geht vom Design Thinking zum Design Making. Machen ist bekanntlich das neue Wollen. Corporate Co-Creation unter Einspielung adäquater Ressourcen als Erlebnisräume halte ich für die vielversprechendste Möglichkeit, die die digitale Transformation den Pharmaunternehmen – und nicht nur denen – bietet und die damit die Digitalisierung erfahrbar, erfassbar, erlebbar macht. Genau das bieten wir mit unseren innovation.labs und Healthcare Hackathons mit großem Erfolg an.
Nicht verpassen: Die Zukunft der Healthcare-Branche – Trends und Entwicklungen am 8. November in Frankfurt
Am 8. November findet das nächste Seminar im THE SQUARE am Frankfurter Flughafen statt. Es geht darin um Fragen wie: Ist die Entwicklung der Healthcare-Branche disruptiv oder evolutionär? Ist der autonome Arzt Vision oder Wirklichkeit? Aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln werden Branchen-Vordenker, Beratungsunternehmen und Vertreter der Pharmaindustrie selbst den Blick nach vorne richten und Ihnen eine klare Vorstellung über die Zukunft der Healthcare-Branche geben.
Ein detailliertes Programm und weitere Informationen unter http://www.pharmakommunikationsakademie.de.
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