„Die Kommerzialisierung der Medizin ist für viele Oberärzte nicht mehr erträglich“
In vielen Fachgebieten bleiben Stellen lange unbesetzt. Woran liegt das? Und was können Klinken tun, um das zu ändern?Dr. Hans-Albert Gehle: Wir haben in unserem Landesverband Nordrhein-Westfalen/Rheinland-Pfalz im Juni und Juli dieses Jahres rund 1.250 Oberärztinnen und Oberärzte befragt. Daraus geht hervor, dass die Oberärzte vielfach mit administrativen Aufgaben überhäuft werden. Zahllose Oberärzte berichten von täglich ein bis drei Überstunden, auch in Teilzeit. Das erlaubte Maximum des Arbeitszeitgesetzes werde oft überschritten. Ein Oberarzt brachte die Situation wie folgt auf den Punkt: "Keine Pausen. Abarbeiten administrativer Aufgaben in den Bereitschaftsdiensten statt Ruhezeit." Die Kliniken müssen Oberärzte von administrativen Aufgaben entlasten und ihnen wieder mehr Zeit für ihre Kerntätigkeit geben. Dazu gehört auch die Weiterbildung jüngerer Kolleginnen und Kollegen.
Health Relations: Oberärzte müssen heute nicht nur medizinische Kompetenzen haben, sie sollen auch Führungsqualitäten beweisen. Das muss aber erlernt werden und zahlreiche Oberärzte fühlen sich nicht gut auf Führungsaufgaben vorbereitet. Wie können Kliniken sie dahingehend unterstützen?Dr. Hans-Albert Gehle:Zunächst sollten sie Oberärzte als das wahrnehmen, was sie sind – Führungskräfte. Jede Stationsleitung in den Kliniken, jede technische Leitung wird zunächst auf vorbereitende und dann auf begleitende Schulungen geschickt, nicht aber die ärztlichen Kollegen. Dass man mit Ernennung zum Oberarzt nicht nur fachliche, sondern auch Personal- und damit Führungsverantwortung hat, wird von den Klinikleitungen nicht wahrgenommen bzw. einfach vorausgesetzt. Es bleibt den Ärzten dann nur die Eigeninitiative in der Freizeit. Bei der Menge an Arbeitsstunden und zusätzlichen Aufgaben wie Fortbildung zum dauerhaften Erwerb der notwendigen weiteren medizinischen Qualifikation, ist das unmöglich zu leisten. Unsere Forderung: Oberärzte sollten für ihre Führungsaufgaben durch Schulungen unterstützt werden. Wir als Marburger Bund gehen hier mit gutem Beispiel voran und bieten unseren Mitgliedern eigene Schulungen an. Allerdings werden die Kolleginnen und Kollegen dafür zu selten freigestellt. Dabei müssten solche Schulungen doch eine selbstverständliche Aufgabe der Kliniken sein.
Junge Fachärzte zeigen immer weniger Ambitionen, als Oberärzte arbeiten zu wollen. Fehlende Vorbereitung auf Führungsaufgaben, zu hoher administrativer Aufwand, unzureichende Bezahlung – die Liste der Klagen von Oberärzten ist lang. Was macht Kliniken als Arbeitgeber für Oberärzte wieder attraktiver? Dr. Hans-Albert Gehle, Bundesvorstandsmitglied Marburger Bund und erster Vorsitzender des Marburger Bund Landesverbandes Nordrhein-Westfalen/Rheinland-Pfalz, wünscht sich einerseits mehr Entlastung und andererseits mehr Unterstützung für Oberärzte.
Health Relations: Deutschen Kliniken gehen die Oberärzte aus. "Die Rahmenbedingungen müssen besser werden"Health Relations: Viele Oberärzte geben auch an, für Überstunden oder Bereitschaftsdienste nicht entsprechend bezahlt zu werden. Angesichts vieler chronisch klammer Krankenhäuser muss man sich nicht fragen, wie realistisch es ist, dass Kliniken das finanziell überhaupt in ausreichender Form leisten können?Dr. Hans-Albert Gehle: Als Ärztegewerkschaft arbeiten wir daran, berufserfahrenen Ärztinnen und Ärzte bessere Gehaltsperspektiven zu verschaffen. In künftigen Tarifverhandlungen wird das ein wichtiger Faktor sein. Die Kliniken sind durchaus in der Lage, unseren Forderungen Rechnung zu tragen. Wer hoch qualifizierte Ärztinnen und Ärzte dauerhaft binden will, muss sich mehr einfallen lassen, als immer nur Nein zu sagen. Natürlich ist auch die Politik gefragt. Die Rahmenbedingungen müssen besser werden. Vor allem die Kommerzialisierung der Medizin ist für viele Oberärzte nicht mehr erträglich. Sie werden mit ökonomischen Erwartungen konfrontiert, die den medizinischen Erfordernissen widersprechen. Daran ist der durch das DRG-System ausgelöste Kostenwettbewerb schuld, in den die Politik die Krankenhäuser getrieben hat. Health Relations: Junge Fachärzte wollen oft heute nicht mehr Oberärzte werden. Wie motiviert man diese, sich doch für diesen Karriereweg zu entscheiden?Dr. Hans-Albert Gehle:Junge Fachärzte stehen vor der Entscheidung, ob das Krankenhaus ihr Lebensarbeitsplatz werden soll oder ob sie in eine ambulante Tätigkeit abwandern. Sie vergleichen also beide Tätigkeiten. Die attraktivere gewinnt. Während in der Praxis alles darauf ausgerichtet ist, den Facharzt zu unterstützen, fühlen sich die jungen Kolleginnen und Kollegen in den Kliniken oft allein gelassen. Und genau hier gibt es den größten Handlungsbedarf: an erster Stelle die Entlastung von allem, was nicht ärztliche Tätigkeit ist. In den Niederlanden wird man keinen Oberarzt mit Diktiergerät finden, da ein Assistent ihm alle bürokratischen Prozesse abnimmt. Zum zweiten: Jede Kollegin und jeder Kollege möchte individuelles Wissen und eigene Ideen einbringen. Das heißt, man muss ihnen Perspektiven als Führungskräfte geben. Und drittens ist für junge Kolleginnen und Kollegen die Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben besonders wichtig. Da sind andere Branchen wesentlich weiter. Zwischenzeitliche Teilzeittätigkeit, Home-Office, durch Firmen geförderte lebenslange Qualifikationen – all das ist bis heute nur selten im Krankenhaus zu finden. Da gäbe es noch einiges hinzuzufügen. Entscheidend ist: Der Arbeitsplatz Krankenhaus muss wieder attraktiv werden.