Die Entwicklung der Telemedizin in Deutschland verläuft schleppend. Jetzt legt Baden-Württemberg vor – und lockert das Fernbehandlungsgesetz. Über Chancen, Risiken und lähmende Strukturen.
Telemedizin wird in Zukunft eine tragende Rolle im gesundheitlichen Versorgungssystem spielen. Das impliziert auch die
E-Health-Initiative des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG). Denn: Die flächendeckenden Anwendungen der Telematik und Telemedizin ermöglichen eine bessere und effizientere Versorgung von Patienten, beispielsweise in ländlichen Regionen, in denen bereits jetzt ein Ärztemangel zu verzeichnen ist. Telemedizin schafft neue Perspektiven. Wartezeiten beim Arzt gehören der Vergangenheit an, ältere Patienten können in ihrem häuslichen Umfeld behandelt werden. So die Theorie.
Und die Praxis? In Deutschland geht es nicht richtig voran mit der Entwicklung von Telemedizin. Derzeit beschränkt sie sich im Wesentlichen auf regionale Modell- und Leuchtturmprojekte. Das Bundesland Bayern beispielsweise verzeichnet mehrere solcher Vorstöße im Rahmen der
Telemed-Allianz. Auch das strukturell zersiedelte
Schleswig-Holstein hat in Zusammenarbeit mit der DAK ein Modellprojekt für die Ferndiagnose und Behandlung von Herzpatienten im Raum Segeberg eingerichtet.
Der größte Impuls für Telemedizin? Die Patientennachfrage
Ärzte müssen sich für die Zukunft wappnen: Dr. med. Franz Bartmann, Präsident der Ärztekammer Schleswig-Holstein
An der flächendeckenden Umsetzung von Telemed-Maßnahmen aber hapert es. Warum? Weil, so Dr. med. Franz Bartmann, Präsident der Ärztekammer Schleswig-Holstein, zum einen das derzeitige Vergütungssystem der Krankenkassen für Ärzte und zum anderen die mangelnde Bereitschaft des Patienten, diese Leistung aus eigener Tasche zu bezahlen, dem entgegenstehen würden.
„Der Bewertungsausschuss der KBV hat Telemedizin als Faktor erfasst, aber das Volumen der abrechenbaren Einheiten zu gering angesetzt“, erklärt er. Investitionen in die Kommunikationstechnik würden sich auf dieser Basis für den Arzt kaum lohnen.
Warum sollte ein Arzt auf neue Technik setzen, wenn die alten Prozesse nach wie vor viel besser bezahlt werden? „Auf diese Weise wird Telemedizin zur Randerscheinung. Das grenzt an einer Verhinderungstaktik.“ Das sei im gewissen Rahmen auch nachvollziehbar, denn woher solle das Geld bei den Kassen auch kommen.
„Aber wenn wir uns für die Zukunft rüsten wollen, müssen wir der Telemedizin Chancen einräumen. Ich lehne mich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich sage, dass der Gesundheitsmarkt sich relativ rasch ändern und die Telemedizin selbstverständlicher Faktor in diesem System sein wird.“ Jahrzehnte werde das nicht dauern. „Es ist die Patientennachfrage, die den Fortschritt in der Telemedizin vorantreiben wird. Und die wird steigen. Der Impuls kommt vor allem von der jungen, beruflich angespannten Generation.“
Die Dynamik auf dem Healthcare-Markt ist groß. Wirtschaftliche Interessen spielen eine große Rolle. Das gilt für RX-, aber auch für OTC-Medikamente. Die Bereitschaft zur Selbstmedikation bei Patienten steigt, nicht zuletzt wegen der Vielfalt an Informationsmöglichkeiten und medizinischen Apps, die im Internet zur Verfügung stehen.
Hier müssen Ärzte am Ball bleiben und aufpassen, dass Ihnen die Therapiehoheit nicht entgleitet. Sie müssen sich für Telemedizin öffnen.Telemedizin in Baden-Württemberg. Zukunft gestalten statt hinterher zu hinken
Das Interesse der Wirtschaft sei groß: Dr. med. Oliver Erens, Pressesprecher der Landesärztekammer Baden Württemberg.
Die Landesärztekammer Baden-Württemberg
erregte Ende letzten Jahres mit ihrem Beschluss, Fernbehandlung in engen Grenzen zu gestatten, überregional Aufmerksamkeit. „
Wir wollen die Patientenversorgung vor wirtschaftlichen Interessen schützen, indem wir als Ärzteschaft die Rahmenbedingungen für Modellprojekte in der Telemedizin definieren“, so Dr. med. Oliver Erens, Pressesprecher der Landesärztekammer Baden-Württemberg. „Langfristig werden wir uns der Telemedizin nicht entziehen können. Das zeigt auch der Blick ins Ausland. Unser Nachbarland, die Schweiz, setzt bereits auf Telemedizin. Krankenkassen bieten ihren Mitgliedern günstigere Tarife an, wenn sie sich zunächst an Ärzte im Callcenter wenden, statt eine Arztpraxis aufzusuchen. Am Telefon geht der Arzt einen Fragenkatalog durch, kann sich Fotos zusenden lassen und stellt gegebenenfalls auch Rezepte aus.“
Dr. med. Oliver Erens: "Für uns ist es wichtig, dass Telemedizin in ärztlicher Obhut bleibt und das Patientenwohl im Vordergrund steht." Doch es gibt viele Dinge zu beachten auf diesem Weg. Haftungsfragen zum Beispiel. Was, wenn der Patient, wissentlich oder unwissentlich, Dinge verschweigt? Und das Thema Datenschutz steht ebenfalls im Raum. Dennoch, so Erens: Die Vorteile lägen auf der Hand. Mit Telemedizin erreiche man besonders die jungen Leute, für die Smartphones und Co. zum Alltag gehören. Zudem werde die gesundheitliche Versorgung in ländlichen Bereichen ergänzt.
„Wir sehen Perspektiven, aber auch Risiken. Es kann sein, dass Telemedizin ganz toll ist, es kann aber auch sein, dass diese nur eingeschränkt einsetzbar ist“, sagt Erens. Das Interesse an diesem Projekt sei aber groß. Auch in der Wirtschaft. „Es gibt viele technische Möglichkeiten und Ansätze für eine Fernbehandlung: Videos, Apps, Fotos, Telefon. Derzeit befinden wir uns noch in der Vorbereitungsphase für Bewerbungen von Unternehmen. Wir wissen noch nicht, wie das Ergebnis aussehen wird. Aber für uns ist es wichtig, dass Telemedizin in ärztlicher Obhut bleibt und das Patientenwohl im Vordergrund steht.“
Die Entwicklung in Deutschland mag zaghaft sein, dennoch: Der Zug rollt. Unternehmen aus der Pharma- und MedTech-Branche sind gut beraten, aufzuspringen und die Kooperation mit Ärzten zu suchen. Denn diese sind angewiesen auf gute, seriöse Partner, auf die sie setzen können.
Nur so werden am Ende alle gewinnen. Ärzte, Patienten und Healthcare-Unternehmen.© Beitragsbild: fotolia.com/ronstik