Mit DocDirect bietet die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) erstmals eine ausschließliche Fernbehandlung für gesetzlich Krankenversicherte an. Ein Gespräch mit Kai Sonntag, Leiter Stabsstelle Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bei der KVBW, über hohe Erwartungen und Wettbewerbsdruck.
Ein Schritt mit Signalkraft: Mit der bundesweit einmaligen Ausnahmeregelung in der ärztlichen Berufsordnung, der Aufhebung des Fernbehandlungsverbotes für ausgewählte Modellprojekte, will Baden-Württemberg den digitalen Wandel vorantreiben. Auch die Krankenkassen erkennen das Potential und die Notwendigkeit, sich für Telemedizin zu öffnen. Deshalb starten sie im Mai 2018 das Projekt DocDirect.
Health Relations: Herr Sonntag, was versprechen Sie sich als Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg von DocDirect?Kai Sonntag: Wir starten mit dem Modellprojekt erst einmal in zwei Regionen: Stuttgart und Tuttlingen. Aber wir erwarten schon,
Info:DocDirect fußt auf der Änderung des § 7 Abs. 4 der Berufsordnung, aufgrund derer die Landesärztekammer Baden-Württemberg Modellprojekte genehmigen kann, bei denen die ärztliche Behandlung ausschließlich über Kommunikationsnetze durchgeführt wird (wir berichteten). DocDirect geht voraussichtlich ab März 2018 an den Start, und zwar in den Regionen Stuttgart und Tuttlingen. Das Projekt richtet sich an gesetzlich Versicherte in diesen Regionen. Privat Versicherte können den Service nicht nutzen. DocDirect ist auf eine Laufzeit von zwei Jahren ausgelegt. dass das Modell in Zukunft auch flächendeckend funktionieren könnte. Dafür gibt es internationale Beispiele. In der Schweiz zum Beispiel haben Versicherte seit circa 17 Jahren die Möglichkeit, telemedizinische Behandlungen zu wählen. Mir ist dabei bewusst, dass die Schweiz und Deutschland sich nur mit Einschränkungen vergleichen lassen, da Versicherte dort vergünstigte Tarifmodelle erhalten können, wenn sie sich verpflichten, Telemedizin zu nutzen. Dennoch, wir sind überzeugt: Die Telemedizin kommt!
Health Relations: Welchen fühlbaren Vorteil hat die Telemedizin aus Ihrer Sicht?Kai Sonntag: Erstens: Sie führt zu einer Entlastung der Notfallambulanzen. Warum nutzen so viele Patienten die Notfallambulanz in Krankenhäusern? Weil sie glauben, dass sie bei akuten Beschwerden hier einfach schneller ärztlichen Rat erhalten. Wir möchten Versicherten mit DocDirect ein niedrigschwelliges Angebot machen, um auf anderem Wege schnell medizinische Hilfe zu erhalten. Zweitens erhoffen wir uns dadurch natürlich auch eine Patientensteuerung, die auch die einzelnen Ärzte entlastet. Und drittens erleben wir derzeit einen Ärztemangel. Wir werden auch in Zukunft mehr Ärzte brauchen, als wir heute haben, um die medizinische Versorgung zu garantieren. Telemedizin kann hierbei einen wichtigen Beitrag leisten.
Health Relations: Klingt gut. Aber warum gibt es derzeit in Sachen eHealth und Telemedizin nur Insellösungen in Deutschland, wenn die Vorteile doch auf der Hand liegen? Warum reden wir immer nur über Pilotprojekte?Kai Sonntag: Klar ist: Wenn die Politik von Industrie oder Medizin 4.0 spricht, liegen wir im Gesundheitswesen deutlich zurück. Da sind Fragen völlig berechtigt: Warum geht die Telematik-Infrastruktur erst jetzt an den Start? Und warum werden erst jetzt nationale eHealth-Anwendungen getestet? Man hätte das schon längst machen können. Aber ich möchte diesbezüglich niemandem den schwarzen Peter zuschieben. Es gab jahrelang ganz viele Widerstände von allen Beteiligten, von den Ärzten, den Ärzteorganisationen, der Politik und anderen. Auch das Problem des Datenschutzes ist keineswegs zu vernachlässigen. Es fand sich keine Mehrheit, um das Fernbehandlungsverbot aufzuheben. Die Sonderregelung, die die Landesärztekammer hier in Baden-Württemberg umgesetzt hat, war jahrelang undenkbar.
Health Relations: Insofern ist es schon ein großer Schritt in Richtung Zukunft, den Sie als KVBW sofort für sich nutzen...Kai Sonntag: Weil wir nicht möchten, dass die Ärzte innerhalb dieser Entwicklung zum Spielball anderer Anbieter und Organisationen werden.
Health Relations: Was heißt das genau?Kai Sonntag: Es müssen ja nicht zwangsläufig ärztliche Organisationen sein, die telemedizinische Lösungen anbieten. Wir müssen schneller sein als industrielle Anbieter.
Health Relations: Stehen Sie als Vereinigung mit DocDirect unter Druck?Kai Sonntag: So würde ich es nicht sagen. Unser Vorstand hat diese Entwicklung erkannt und gehandelt. Ich bin mir sicher, DocDirect wird sich in Baden-Württemberg beweisen und andere Bundesländer werden nachziehen.
Health Relations: Wie erreichen Sie die Patienten? Haben Sie Sorge, dass diese das Angebot nicht nutzen möchten?Kai Sonntag: Nein, wir werden das entsprechend kommunizieren. Ich denke, Telemedizin ist für die Versicherten eine attraktive Alternative. Denn wenn wir ehrlich sind, ist der Spaßfaktor in der Notfallaufnahme eines Krankenhauses nicht sehr hoch. Für Patienten, die kein medizinischer Notfall sind, ist Telemedizin ein schnellerer Weg, ärztlichen Rat einzuholen. Zumal es unter den Patienten heutzutage viele gibt, die auch gar keinen festen Hausarzt mehr haben und somit flexibler sind.
Health Relations: Wie genau kann ich mir den Ablauf der Arzt-Patienten-Kommunikation vorstellen? Wie läuft das Ganze ab?Kai Sonntag: Der Patient nimmt über einen von ihm selbst gewählten Kanal Kontakt auf: Per Telefon, über die App bzw. per Chat oder per Videoanruf. Eine medizinische Fachangestellte erfragt bei Kontaktannahme neben den erforderlichen persönlichen Daten das Beschwerdebild. Medizinische Notfälle wie Herzinfarkt oder Schlaganfall leitet sie sofort an den Rettungsdienst weiter. Im Anschluss erstellt sie ein sogenanntes Ticket, das der Tele-Arzt online über eine webbasierte Plattform entgegennimmt. Mit diesen Daten ruft er den Patienten zurück. Stellt er fest, dass ein persönlicher Kontakt und eine Untersuchung vor Ort notwendig sind, übermittelt er den Patienten an eine PEP-Praxis. Das sind patientennah erreichbare Portalpraxen, die sich verpflichten, dem Patienten noch am gleichen Tag einen Termin zur Behandlung zu geben.
Health Relations: Wie viele Ärzte nehmen an diesem Modellprojekt teil?Kai Sonntag: Zwischen 50 und 100 Tele-Ärzte, die Anzahl der PEP-Praxen ist zu diesem Zeitpunkt noch unklar.
Kai Sonntag, Leiter Stabsstelle Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bei der KVBW
Health Relations: Bewerben sich die teilnehmenden Ärzte bei Ihnen oder gehen Sie in die Akquise?Kai Sonntag: Beides. Die Begeisterung ist sicherlich unterschiedlich hoch und hängt auch vom Berufsbild ab. Für Radiologen macht eine Fernbehandlung wenig Sinn – für Hausärzte hingegen schon. Ich gehe davon aus, dass die meisten Tele-Ärzte Hausärzte sein werden.
Health Relations: Vielen Dank für das Gespräch!Titelbild: © Fotolia / rocketclips