„Ärzte sagen, die Regierungen hätten es besser wissen müssen“
Dirk Poschenrieder:Wir stellen unter den befragten Ärzten aller Länder ein allgemeines Gefühl dafür fest, dass die Regierungen es besser hätten wissen müssen. Sie hätten besser vorbereitet sein und die Dinge insgesamt aggressiver angehen sollen. Exemplarisch für eine Vielzahl der Antworten in der Studie ist vielleicht diese hier: "Hören Sie den besten Fachleuten des Gesundheitswesens zu. Wir verfügen über eine jahrelange Ausbildung in der medizinischen Welt und arbeiten daran, das Beste für andere zu tun, damit Patienten sicher und gesund bleiben."
Health Relations: Gilt das auch für den deutschen Healthcare-Markt?
Dirk Poschenrieder: In Deutschland, und das war sehr interessant zu lesen, haben einige Ärzte ganz konkret gesagt, dass wir eigentlich ein organisiertes und effizientes Land seien müssten und trotzdem haben wir bei der Vorbereitung und der Informationen für die Öffentlichkeit nicht besser abgeschnitten als alle anderen Länder. Und das macht sie wütend. Was die Medien betrifft, so betrachten sie einige Medien heute eher als Hindernis und nicht als Hilfe. Generell sehen Ärzte in den Medien das Schüren von Kontroversen, um kurzfristig Aufmerksamkeit zu generieren und sie wünschen sich, dass die Medien damit aufhören würden.
Health Relations: Vor allem die Telemedizin hat u.a. in Deutschland den Durchbruch erlebt, heißt es in den Forschungsergebnissen. Die Arbeitsweise der Mediziner verändert sich also rapide. Wie verändert sich die Arbeitsweise der Healthcare-Agenturen? Und wie disruptiv nehmen Sie diesen Wandel wahr?Dirk Poschenrieder:Unabhängig von dem Thema Telemedizin glaube ich, dass (Healthcare-)Agenturen schon immer Treiber des Wandels waren. Agenturen mussten sich schon immer auf wechselnde Gegebenheiten und Veränderungen einstellen. All das ist nicht neu. Daher glaube ich, dass der Wandel in den Agenturen weniger disruptiv ist als man allgemein glaubt.
Health Relations: Havas Health & You (HH&Y) hat im Sommer eine Forschungsplattform gelauncht, die länderübergreifend die Entwicklungen in der Gesundheitsbranche während der COVID-19-Pandemie dokumentiert. Was haben Sie bislang herausgefunden?"Wir stellen unter den befragten Ärzten aller Länder ein allgemeines Gefühl dafür fest, dass die Regierungen es besser hätten wissen müssen."Bei "Behind the mask" geht es vor allem um die Innenperspektive der Healthcare-Branche. Warum ist so wichtig, hier zuzuhören? Dirk Poschenrieder: Wir wussten, dass die Pandemie ein Wendepunkt in der medizinischen Praxis sein würde – die Welt befand sich bereits inmitten massiver sozialer, technologischer und politischer Veränderungen. Und wer erinnert sich nicht an all die Solidaritätsbekundungen auf der ganzen Welt für die Menschen, die den Gesundheitsberufen arbeiten. Aber wenn wir ehrlich sind, weiß doch keiner genau, wie es ihnen wirklich ging. Ganz persönlich als Mensch. Und das war eine der Ideen hinter der Studie „Behind the mask“. Wir wollten den Menschen hinter der Maske zeigen. Mit all seinen Ängsten, Wünschen, Hoffnungen, Problemen. Die Perspektiven derer im Inneren sind von unschätzbarem Wert, um ihren Kampf um die Kontrolle über das Virus zu verstehen und einen Blick auf die neue Welt zu werfen, die auf der anderen Seite der Pandemie entstehen wird.
Behind the mask
"Behind the mask" ist eine mehrarmige, globale Studie des Network Havas Health & You (HH&Y), die als Langzeitinitiative angelegt ist. Die Studie läuft in den USA, Großbritannien und Deutschland. In einem Zeitraum von mehr als 14 Wochen wurden ethnografische Daten gesammelt und zwei Surveys mit mehr als 400 Teilnehmern durchgeführt. Befragt werden Vertreter des Gesundheitswesens, Krankenversicherungen und Patienten, aktuell zu ihrem Umgang mit der Corona-Pandemie. Ergänzend zu den Befragungen werden persönliche Videos der Befragten erstellt. Ergebnisse werden sukzessive auf der Studienwebsite veröffentlicht."Durch Corona werden Agenturen immer häufiger spontan gebrieft und Maßnahmen müssen schnell umgesetzt werden."Health Relations: Die durch die Pandemie beschleunigten digitalen Veränderungen, New Work, agiles Arbeiten – führen diese Entwicklungen eigentlich auch dazu, dass Mediabudgets kurzfristiger vergeben werden? Dirk Poschenrieder:Das kann ich so nicht bestätigen. Was wir jedoch schon seit Jahren feststellen, und das ist unabhängig von Corona, ist der Trend, dass mehr und mehr Unternehmen eher Projekte vergeben als klassische Retainer. Selbst, wenn man einen Rahmenvertrag hat. Das erleichtert zwar nicht die Planungen, aber auch damit kommt man klar. Was man jedoch beobachten kann, und dies wurde durch Corona sicherlich beschleunigt, dass immer mehr Maßnahmen immer häufiger „spontan“ eingebrieft und schnell umgesetzt werden müssen. Hatte man „früher“ mehr Zeit für Projekte, um sich zum Beispiel auch mal strategisch/medizinisch Gedanken zu machen, geht es heute häufig nur um eine „just-in-time-Umsetzung“. Aber zum Glück nicht immer. Health Relations: Vielleicht nochmal etwas allgemeiner gefragt, welche Herausforderungen müssen Agenturen heute bewältigen?Dirk Poschenrieder:Eine große Herausforderung, vor der Agenturen derzeit stehen, ist das Thema Homeoffice. Homeoffice ist Segen und Fluch zu gleich: Während eines Lockdowns/einer Pandemie ist es unabdingbar – und wir haben als Industrie das Glück, von zu Hause arbeiten zu können. Und das klappte bei uns in der Agentur sehr gut. So konnten wir in der Lockdownphase sogar mehrere Pitches gewinnen. Kreatives, qualitativ hochwertiges Arbeiten ist also auch von zu Hause aus möglich und ist nicht unbedingt an das Office gebunden. Aber was mich jedoch sehr beschäftigt, ist die Tatsache, dass im Homeoffice keine Kultur entsteht bzw. die Gefahr besteht, dass man die vorhandene Agenturkultur verliert. Dabei stellen sich mir die Fragen, „warum soll ich bei der Havas Life in Düsseldorf arbeiten und nicht bei einer anderen Agentur?“, oder "wie verhindere ich, dass sich nicht jeder wie ein Freelancer fühlt?"
"Ärzte müssen den Unternehmen wieder vertrauen, um so die Zeit zu finden, sich mit den Botschaften auseinanderzusetzen."Health Relations: Und, haben Sie hierzu einen Lösungsvorschlag?Dirk Poschenrieder:Das löse ich mit Sicherheit nicht, in dem ich am Freitag per Skype zu einem Bier einlade. Zusammenarbeit benötigt „persönliche Nähe“, Diskurs, Reibung. Und das kann ich während einer Videokonferenz nur bedingt erzeugen. Ein weiteres Thema ist der Nachwuchs bzw. die Mitarbeiterförderung. Vieles geschieht in unserer Branche durch Beobachtungen. Wie soll ich aus dem Homeoffice heraus einen Junior fördern? Wie will sich der Midlevel Art Director für die Senior-Rolle empfehlen? Eine richtige Lösung habe ich da noch nicht gefunden. Aber ich arbeite daran! Health Relations: Durch Corona hat das Thema Gesundheit gesellschaftlich gerade einen großen Stellenwert erhalten. Wie sollten sich Marken hier positionieren, um von den Patienten als hilfreich wahrgenommen zu werden? Dirk Poschenrieder:Wenn wir an ethische Produkte denken, dann sind ja in erster Linie Ärzte die Zielgruppe. Hier hat unsere Studie einige sehr interessante Insights zutage gebracht. 88 % der befragten Ärzte sagten, dass sie „Pharmakommunikation nicht als wertvolle Kommunikationsquelle“ ansehen. Und genau da müssen Pharmakonzerne ansetzen. Ärzte müssen den Unternehmen wieder vertrauen, um so die Zeit zu finden, sich mit den Botschaften auseinanderzusetzen. Und getreu dem Motto „Viel hilft viel“, so wie es gerade zu Beginn der Pandemie viele Unternehmen machten, als der Außendienst keine Besuche mehr durchführen konnte, ist da eher nicht so zielführend.