Digitale Gesundheitsangebote boomen, doch werden sie nur widerwillig von Ärzten und Krankenkassen angenommen. Dabei profitieren alle Beteiligten von diesen digitalen Innovationen, sagt ein Experte.

Health Relations: Herr Dr. Alexander Schachinger, Sie sind Experte im Bereich digitale Gesundheit und Health 2.0. Telemedizin, eHealth, Health 2.0: Wo liegen die Unterschiede? Schachinger: Das Unterscheidungsmerkmal hier ist: Die Telemedizin wird vom traditionellen Gesundheitswesen finanziert und angewendet, sie ist also ein Begriff aus der traditionellen  und regulierten Welt. Health 2.0 oder digitale Gesundheit kommt aus der „neuen“ Wirklichkeit einer digitalen Gesellschaft, in der wir nun mal leben und beschreibt etwas komplett Gegensätzliches: Hier geht es um das „freie Internet“, in dem sich Patienten und Start-Ups bewegen und sich der Markt frei und konsequent nutzerzentriert entwickelt. Der Begriff eHealth kann als eine Art Überbegriff gesehen werden, der aber, je nach Kontext, auch synonym für die Telemedizin verwendet wird. Health Relations: Welche drei Trends prägen den Markt in den nächsten Jahren? Schachinger:Trend 1 Der Adaptationsdruck für die Selbstverwaltungsstrukturen des Gesundheitssystems mit der fortschreitenden Digitalisierung zunehmen. Online-Start-ups werden radikal konsequente, patientenzentrierte digitale Innovationen entwickeln und sich verbreiten. Und diese unabhängigen Webdienste und Apps werden von den Patienten genutzt werden. Mit den Gesundheitsdaten, die sie auf den mobilen Endgeräten gespeichert sind, konfrontieren die Patienten dann ihre Ärzte. Auf solche Situationen müssen sich Kassen und Ärzte einstellen. Momentan stellt der digitale Gesundheitsmarkt eine Art Paralleluniversum zum traditionellen Gesundheitssystem dar. "Momentan stellt der digitale Gesundheitsmarkt eine Art Paralleluniversum zum traditionellen Gesundheitssystem dar."Trend 2 Gesundheitsdaten immer mehr speicherbar, sei es durch Tracking, Anwendungen auf dem Smartphone oder auch Wearables. Ein Stichwort hier ist bestimmt das „Personal Health Records”-Phänomen: Patienten bauen sich mehr und mehr ihre eigene digitale Gesundheitsakte, die sie ähnlich wie ihr Online-Banking oder ihren Facebook-Account selbst verwalten. Die Nachfrage nach solchen Angeboten steigt. So kommt es zu einem Paradigmenwechsel: Die Daten sind so in den Händen des Patienten und nicht mehr in denen des Arztes.*Trend 3 Die Chance auf umfangreiche Auswertungen für die digitale Versorgungsforschung. Wir sehen es bei unseren Umfragen: Betroffene spenden gerne ihre Daten, um die Forschung voranzutreiben. Man könnte diese Daten aus Apps etc. an Institute, Forschungslabore, Universitäten weitergeben. Health Relations:  Sieht man diese Veränderungen schon heute?Schachinger: Diese Trends sieht man heute schon an zwei Momenten: Und zwar dem Angebot und der Nachfrage. Die Start-Ups entwickeln ja schon heute solche Lösungen und Innovationspfade. Diese kann man in acht „Haupttrends“ differenzieren (s. Grafik). Die Early Adopters beginnen, diese Angebote, wie Apps und Tracker,  auch heute schon mehr und mehr zu nutzen. Wir sehen aber anhand unseres E-Patient Survey, dass sich der Anteil an Menschen, die diese Innovationen nutzen, im einstelligen Prozentbereich befindet. DGM_Report_SB_ly1-10Health Relations: Wie kann man die traditionelle und die „Start-up-Welt“ miteinander verbinden? Schachinger: Dies könnte man mit Pilotprojekten erreichen, bei denen diese Webdienste in die normale Regelversorgung nach und nach integriert werden. Das sieht so aus, dass der Patient nicht mehr selbständig im Netz seine Informationen oder Dienstleister suchen „muss“, sondern dass ihn diese Webdienste strukturiert von seinen Versorgern , seinem Arzt, Apotheker, Kasse, Klinik usw. bereitgestellt werden. Health Relations: Datenspeicherung ist in Deutschland nach wie vor ein heikles Thema. Hinkt die Bundesrepublik deswegen im Bereich Health 2.0 hinterher?Schachinger: Nein. Generell kann man nicht sagen, dass Deutschland in irgendeiner Weise besonders entwickelt ist oder irgendwo besonders hinterherhängt. Der „Fortschritt“ hängt zum Beispiel viel mit der Kassenstruktur des jeweiligen Landes zusammen. In England beispielsweise gibt es nur eine Kasse, die NHS, die natürlich auf einfache Weise flächendeckend pilotieren kann. Das deutsche Kassensystem ist viel komplexer. Um ein weiteres Beispiel zu nennen: Dänemark hat die elektronische Gesundheitsakte und Sundhed.dk.** Health Relations:Was davon ist in Deutschland umsetzbar?In Deutschland herrscht tendenziell ein „Bedenkenträgertum“Schachinger: Solche Innovationen sind wiederum in Deutschland nicht realisierbar, da hier die Bedenken in Bezug auf mögliche Datenschutzlücken sehr groß sind. Kleinere beziehungsweise andere Länder haben eher das Potenzial, das Health-Outcome und die Versorgungsperspektive im Fokus. In Deutschland herrscht tendenziell ein „Bedenkenträgertum“, wogegen andere Staaten die Perspektive der Versorgungsverbesserung in den Vordergrund stellen. Aber man bemerkt mehr und mehr ein Umdenken. Wir als Experten werden beispielsweise vermehrt von Parteien, Ministerien und Verbänden zu Vorträgen eingeladen. Health Relations: Wo liegen die größten Chancen, wo die größten Risiken der Digitalisierung? Schachinger: Das ist natürlich eine sehr komplexe Frage auf die ich nur sehr pauschal antworten kann. Die weltweite Perspektive für Kassen ist natürlich die der Versorgungsverbesserung und Kostenreduktion. Ein konkretes Szenario wäre hier beispielsweise: Eine Patientin verlässt nach einer Hüft-OP und entsprechendem Aufenthalt das Krankenhaus und bekommt von ihrem Operateur eine „Hüft-App“, also eine Coaching-/ Nachsorge-App, die sie ihr genau sagt, wann sie ihre Hüfte wieder teilbelasten darf, ihr Übungen zur Regeneration oder Entspannung zeigt, deutlich macht, wie sie hüftschonend Treppenstufen steigen kann und so weiter. Health Relations: Und was haben Arzt und Industrie davon?Schachinger: Für den Arzt könnten Vorteile sein, dass seine Patienten durch andere Therapiemöglichkeiten eine höhere Adhärenz aufzeigen und er sein Portfolio erweitern kann. Patienten werden besser, mit den passenden und vor allem verständlichen Informationen versorgt. Die Industrie kann durch digitale Angebote viel für ihre Kundenbindung tun, sich neue Feedbackmöglichkeiten erschließen, Daten sammeln um Produkte zu evaluieren und zu verbessern. Generelle Risiken bei einer App beispielsweise könnten auftreten, wenn diese Werte falsch berechnet und es so zu einer Fehlmedikation der Patienten kommt. Datenmissbrauch ist auch ein großes Risiko, das in diesem Zusammenhang häufig genannt wird. Also, dass Datensätze von mehreren tausend Nutzern geklaut und verkauft werden. Auch hier ist weltweit erst ein Fall bekannt, der sich vor ein, zwei Jahren in den USA ereignet hat. Jedoch sollte man solche Fälle immer in Relation zur der großen Chance sehen, dass man durch digitale Angebote eine bessere Behandlung und Versorgung erreichen kann.
*Anmerkung der Redaktion: Unter Personal Health Records versteht man Anbieter digitaler anlegbarer Gesundheitsakten, welche das Ablegen, Verwalten und die Verknüpfung  mit erklärenden Wissensdatenbanken persönlicher medizinischer Befunde, Röntgenbilder usw. ermöglichen.
** Anmerkung der Redaktion: Eine Internetseite die elektronischen Akten von praktizierenden Ärzten, öffentlichen Krankenhäusern und allen Apotheken im Land sammelt.
kDr. Alexander Schachinger ist Gründer und Geschäftsführer der EPatient RSD GmbH in Berlin. Nach dem Studium der Medienwirtschaft in Berlin und Toronto setzte er seinen Werdegang in der Gesundheitsindustrie und Strategieberatung fort. 2010 promovierte er zum globalen Forschungsstand des digitalen Patienten. Seit 2011 ist er in der Marktforschung und Strategieberatung für Kostenträger, Hersteller und Ministerien im Bereich Health 2.0 mit einer nationalen und internationalen Perspektive tätig. Er ist Entwickler des jährlich stattfindenden EPatient Surveys.