Ariane Schenk, Bitkom: „Perspektivisch können Daten Leben retten“
Ariane Schenk:Die Mehrheit der Bundesbürger sieht in der digitalen Gesundheitsversorgung große Chancen, um bspw. die steigenden Kosten des deutschen Gesundheitssystems aufzufangen, Ärzte und medizinisches Personal zu entlasten, Prävention, Diagnose und Behandlung von Krankheiten zu verbessern oder auch um selbstbestimmt und aufgeklärt zu leben. Darüber hinaus nutzen zunehmend mehr Bürger aber auch das Internet, um nach Gesundheitsinformationen und Bewertung von Ärzten zu recherchieren oder um Medikamente in einer Online-Apotheke zu bestellen.
Health Relations: Und wie sieht das bei den Ärzten aus?Ariane Schenk:In der Ärzteschaft prallen derzeit noch alte und neue Welt aufeinander. Obwohl sie beim Einsatz digitaler Anwendungen momentan noch zögerlich sind, sehen 7 von 10 Ärzten die Digitalisierung als große Chance. Hier sehen Ärzte ähnliche Vorteile wie die Bevölkerung. Nämlich, dass Arztpraxen und Krankenhäuser ihre Kosten mithilfe digitaler Technologien senken können und digitale Technologien die Behandlung verbessern können.
Health Relations: Durch Corona ist Einiges in Bewegung gekommen. Auf welchen Bereich der Digitalisierung hat sich die Pandemie am stärksten ausgewirkt?
Ariane Schenk: Die Nutzung von Videosprechstunden ist im Zusammenhang mit der aktuellen Situation nachweislich gestiegen und die Nachfrage auf Seiten von Patienten, Ärzten und Psychotherapeuten ist so hoch wie noch nie. Infolge der Pandemie haben auch viele Anbieter der Videodienste reagiert und stellen ihre Angebote den Ärzten derzeit kostenfrei zur Verfügung. Gleichzeitig sehen wir bei Politik und Selbstverwaltung große Offenheit, bürokratische Anforderungen vorübergehend zu vereinfachen – beispielsweise für telefonische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen oder die Aufhebung der Begrenzungsregelung für Videosprechstunden.
Health Relations: Wird der digitale Arztbesuch also bald zum Standard?Ariane Schenk:Digitale Arztbesuche sollten mit der Versorgung vor Ort gleichgestellt werden und in die vollumfängliche Regelversorgung aufgenommen werden. Wichtig ist auch, den Wirtschaftsstandort Deutschland für Forschung und Entwicklung attraktiver zu machen. Wir brauchen daher einen fairen Wettbewerb, um Innovation im Gesundheitswesen auch langfristig zu fördern. Und vor allem muss die elektronische Patientenakte ausgebaut werden. Sie sollte eine zentrale Behandlungsplattform werden, die Ärzten und den Versicherten den Zugang zu Diagnosen, Therapien, Dokumenten und digitalen Gesundheitsanwendungen bietet. Nicht nur dafür müssen einheitliche und rechtssichere Rahmenbedingungen für die Datennutzung geschaffen werden.
Health Relations: Digitale Gesundheitsangebote nehmen zu, sei es die elektronische Patientenakte, das E-Rezept, Telemedizin oder die Tatsache, dass Apps, sprich digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA), nun vom Arzt verschrieben werden können. Ist die digitalisierte Medizin schon in der Breite der Bevölkerung angekommen? "Noch nicht alle Mediziner sind davon überzeugt, digitale Gesundheitsanwendungen zu verordnen."Health Relations: Die grundsätzliche Bereitschaft ist das eine, aber inwieweit setzten sie sich denn in der Praxis schon mit den digitalen Angeboten auseinander?Ariane Schenk:Der Digitalisierungsgrad ist in vielen Praxen und Kliniken hinter dem Stand der Technik zurück. Auch bei der Bereitschaft, DiGAs zu verordnen sind noch nicht alle Mediziner überzeugt. Es ist deshalb wichtig, dass sich jeder Arzt mit den neuen digitalen Möglichkeiten auseinandersetzt und Politik und Krankenkassen umfassend über Nutzen, Anwendung und Verordnungsmöglichkeiten informieren. Health Relations: Was muss sich noch verbessern, um alle Teile der Gesellschaft zu erreichen?Ariane Schenk:Trotz der breiten Akzeptanz durch Bürger, Patienten und Ärzte fehlt es an einem Zugang der digitalen Angebote zur Regelversorgung. Bei vielen neuen digitalen Versorgungsangeboten handelt es sich um Pilotprojekte und Insellösungen. Die Gründe dafür liegen vor allem in den fehlenden rechtlichen und strukturellen Rahmenbedingungen, in fehlenden Abrechnungsmöglichkeiten, aber auch in mangelnder wissenschaftlicher Evidenz. Es wird notwendig sein, die Bedingungen für Erprobungen und Modellvorhaben zu verbessern und an die Realität digitaler Versorgungsangebote anzupassen, sodass die Nachweise über den Nutzen digitaler Lösungen effizienter erbracht werden können. Health Relations: Studien belegen immer wieder: Deutschland liegt im Vergleich zu anderen Ländern bei der Digitalisierung des Gesundheitssystems zurück. Was kann hier getan werden?Ariane Schenk:Die Basis einer konsequenten Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen ist eine stärkere Vernetzung von Politikfeldern und Branchen unter zentraler politischer Moderation. Wir brauchen ein nationales eHealth-Zielbild und einer daraus abgeleiteten eHealth-Strategie für Deutschland. Schaut man sich an, in welchen Ländern digitale Lösungen funktionieren und akzeptiert werden, liegt diesen Ländern eine klare Strategie und koordinierter Digitalisierungsprozess zugrunde. Durch die Einführung der ePA (elektronische Patientenakte) in wenigen Wochen und die aktuell erstmalig geschaffene Leistungskategorie für digitale Gesundheitsanwendungen im GKV-System ist ein großer Schritt in Ländervergleichen an die Spitze zu kommen.
Medienpartnerschaft
Digital Health Conference am 23. November
Elektronische Patientenakten, Robotik und Künstliche Intelligenz im OP: Die Digitalisierung ist aus dem Gesundheitswesen nicht mehr wegzudenken. Auf der Digital Health Conference treffen Sie am 23. November 2020 auf die wichtigsten Experten aus dem Gesundheitswesen, Politiker und Regierungsmitglieder aus Bund und Ländern sowie Vertreter aus der Digitalwirtschaft und Gesundheitsversorgung. Wir laden Sie ein, sich über die neuesten technologischen und innovativen Entwicklungen im Gesundheitswesen auszutauschen. Der Digitalverband Bitkom bietet mit der Digital Health Conference eine virtuelle Plattform, auf der Sie sich vernetzen, inspirieren lassen und das globale Digital Health Ökosystem stärken und vorantreiben können. Neugierig? Hier geht's zu weiteren Informationen und zur Anmeldung: [su_button url="https://transformation-week.de/health" target="blank" background="#0099e3" icon="icon: mail-forward"]Anmeldung[/su_button]"Künstliche Intelligenz oder Big Data können die Medizin revolutionieren."Health Relations: Wagen wir mal einen Blick in die Zukunft. In einer Umfrage des Bitkom von 2020 geht hervor, dass 45 Prozent der Befragten der Meinung sind, dass Ärzte ihre Diagnose grundsätzlich von einer KI prüfen lassen sollten. Wie verändert das die Behandlung der Zukunft?Ariane Schenk:Diese Technologie hat einen großen Einfluss darauf, wie medizinische Behandlung in Zukunft aussehen wird. Künstliche Intelligenz oder Big Data können die Medizin revolutionieren. Dabei geht es nicht nur um Diagnoseverfahren, sondern auch um Forschung und Entwicklung, um Behandlung und Heilung, wovon alle Patienten profitieren werden. Insgesamt sehen viele Bundesbürger die KI vor allem als effektive Unterstützung für Mediziner. Health Relations: Bei welchen Aufgaben insbesondere?Ariane Schenk:KI kann die Gesundheitsversorgung bei Diagnose und individueller Therapie unterstützen und Ärzte bei Routineaufgaben entlasten. KI wertet riesige Mengen von CT-Bildern aus, erkennt Tumore bereits in einem Frühstadium und entwickelt perfekt auf den Patienten, sein Genom und seine körperliche und soziale Disposition zugeschnittene Therapien. Aber auch bei invasiven Untersuchungen und im OP kann KI und Big Data Ärzte bei komplizierten und filigranen Arbeiten unterstützen, z.B. durch KI-gestützte Katheterführung oder roboterassistierte und AR-basierte Operationen. Die Nutzung von KI und Big Data in Forschung und Entwicklung kann beispielsweise den Menschen als digitalen Zwilling simulieren und so die Medikamentenentwicklung verbessern, klinische Studien verkürzen und auch hier individuelle Konstitutionen berücksichtigen.
"Perspektivisch können Daten auf diese Weise Leben retten."Health Relations: Bleibt abzuwarten, ob die Patienten da mitziehen. Derzeit ist eine freiwillige Datenfreigabe für Forschungszwecke ausgeschlossen, doch ab 2023 können Versicherte die in der ePA erfassten Daten freiwillig und datenschutzkonform der medizinischen Forschung zur Verfügung stellen. Ariane Schenk: Gerade für die Entwicklung innovativer Behandlungsmöglichkeiten für chronische oder seltene Krankheiten sind große Datenmengen nötig. Diese Daten zu nutzen und zu analysieren ist die Voraussetzung dafür, dass digitale Gesundheits- und Diagnoseverfahren entwickelt und angewendet werden dürfen. Perspektivisch können Daten auf diese Weise Leben retten. An dieser Stelle ist der Zugang zu und die Nutzung von heterogenen Gesundheitsdaten für die industrielle Gesundheitswirtschaft nötig, um eine effizientere, sicherere und patientenorientiertere Versorgung zu gewährleisten. Gleichzeitig brauchen wir harmonisierte Landesdatenschutzrichtlinien, um Gesundheitsdaten auch länderübergreifend für die Forschung effektiv zu nutzen. Wie kann es gelingen, die Bevölkerung von dem Zusatznutzen durch KI und Datenfreigabe zu überzeugen?Ariane Schenk: Die Bereitschaft zur Freigabe von Gesundheitsdaten geht in der Bevölkerung über das hinaus, was der Gesetzgeber für zulässig erklärt. Fast 90 Prozent der Menschen in Deutschland sind aber bereit, ihre Daten unter bestimmten Voraussetzungen auch der privatwirtschaftlich getragenen Forschung zur Verfügung zu stellen. Viele Bürger sehen im Einsatz von KI auch eine Möglichkeit, sich eine Zweitmeinung zu ihrer Diagnose oder Therapie einzuholen oder meinen sogar, Ärzte sollten grundsätzlich ihre Diagnose von einer KI prüfen lassen. Notwendige Grundlage für die Entwicklung und Anwendung entsprechender Lösungen sind große Mengen an Daten und sogenannte Real World Daten.