Wie kann sich die Pharmaforschung weiterentwickeln, um Krankheiten noch erfolgreicher zu besiegen? Naturwissenschaftliche und technische Expertise bleiben gefragt, KI hat einen festen Platz in der Forschung eingenommen und Zukunftstechnologien wie Quantencomputing rücken in den Unternehmensfokus. Ein Ausblick von Dr. Brigitte Fuhr und Dr. Fridtjof Traulsen von Boehringer Ingelheim.
Dr. Fridtjof Traulsen über den Standort Deutschland

Dr. Fridtjof Traulsen  © Andreas Reeg

Innovationen in der Pharmabranche brauchen viel Zeit. 12 bis 15 Jahre dauert es in der Regel von der ersten Idee bis zum zugelassenen Medikament, berichtet Dr. Traulsen, Deutschlandchef von Boehringer Ingelheim, auf der diesjährigen re:publica in Berlin. Bis zur Marktreife eines Medikaments entstehen dabei oft mehr als eine Milliarde Euro an Kosten – und das bei einer Erfolgsaussicht von gerade einmal 5 Prozent.

Dem gegenüber stehe ein Wert von nur rund 33 Prozent an Erkrankungen, die derzeit überhaupt behandelbar seien. „Unsere Hoffnung als forschende pharmazeutische Industrie ist, dass wir mit KI zum einen in der Forschung ein paar Jahre gewinnen können – und zum anderen die Erfolgswahrscheinlichkeit für eine Zulassung erhöhen.“

Vielfältige Anwendungen in der Pharmaforschung

Die Anwendungsbereiche digitaler Technologien in der Pharmaforschung sind vielfältig. Bereits heute hat Boehringer Ingelheim zum Beispiel ein Tool namens „Adam“ im Einsatz, der Name steht kurz für „Advanced Design System for Molecules“. Die Technologie kann Eigenschaften von Molekülen vorhersagen – und hilft so Forschenden dabei, die Moleküle entsprechend zu priorisieren. Mit dem intelligenten Assistenzsystem „iQnow“ können Forschende aus der großen Menge an Publikationen in der Forschungsliteratur die für sie relevanten Informationen schneller finden.

Außerdem, erläutert Dr. Brigitte Fuhr, kann man im Rahmen von „Computational Biology“ Computer einsetzen, um biologische Zusammenhänge im Körper zu modellieren. Daraus lassen sich wissenschaftliche Erkenntnisse ableiten – zum Beispiel, wie Medikamente im Körper wirken oder welche Wechselwirkungen möglich sind.

Wie solche Tools in der Praxis unterstützen, zeigt folgendes Beispiel: Bereits in der frühen Phase der Forschung an neuen Therapieansätzen für eine seltene Hauterkrankung konnte eine Datenanalyse per Künstlicher Intelligenz helfen, einen speziellen Rezeptor zu identifizieren – und ermöglichte so letztlich einen Therapiedurchbruch.

Quantencomputing: In den Kinderschuhen – noch!

Während derlei Technologien die Pharmaforschung bereits heute unterstützen, zeigt sich mit dem Thema Quantencomputing schon nächste Evolutionsstufe am Horizont. „Quantencomputing steckt heute noch in den Kinderschuhen, hat aber sehr großes Potenzial, die Pharmabranche zu revolutionieren“, erklärt Dr. Brigitte Fuhr. „Hier geht es darum, die nächste Stufe der computergestützten Pharmaforschung zu ermöglichen, indem man einen digitalen Zwilling des Körpers herstellt. Also nicht nur bestimmte Bereiche wie einzelne Dynamiken oder Molekül-Interaktionen simuliert oder modelliert, sondern wirklich den kompletten menschlichen Körper und alle Interaktionen darin digital abbildet.“

„Quantencomputing hat sehr großes Potenzial, die Pharmabranche zu revolutionieren“

Da die Rechenleistung heutiger binärer Computer dafür nicht ausreicht, sind Anwendungen des Quantencomputings noch Zukunftsmusik. Die Betonung aber liegt auf noch, denn: „Computer mit einer anderen Arbeitsweise versprechen wirkliche Fortschritte in Richtung Quantencomputing.“ Deshalb betreibt bei Boehringer Ingelheim ein eigenes Team in diesem Feld angewandte Grundlagenforschung. Es arbeitet mit großen Playern wie Google zusammen, aber auch mit innovativen Start-ups und Universitäten.

Früh investieren, früh neue Rollen besetzen

„Das Thema Quantencomputing zeigt, dass man als Unternehmen in der Pharmaforschung früh investieren muss“, sagt Dr. Fridtjof Traulsen. „Es wird vielleicht in zehn Jahren praktisch relevant, aber wir müssen heute schon die entsprechenden Weichen setzen.“ Boehringer Ingelheim sieht er damit unter den Vorreitern auf dem Gebiet und will die weitere Entwicklung aktiv mitgestalten. Dazu gehört auch die Besetzung der relevanten Rollen im Unternehmen.

Auf der einen Seite brauche man in der Pharmaforschung nach wie vor viel naturwissenschaftliches und technisches Talent, viele Medizinerinnen und Mediziner. Auf der anderen Seite müssten nun verstärkt auch Data Scientists hinzukommen sowie insgesamt Menschen, die gut mit Daten umgehen können und das technische Programmieren beherrschen. „Dabei ist entscheidend, dass beide Seiten die Sprache der jeweils anderen sprechen. Dass sie offen füreinander sind und eine Lernbereitschaft mitbringen“, so Dr. Traulsen. „Technologie und die klassische Labortätigkeit interagieren immer stärker, werden sich in einem neuen Gleichgewicht zusammenfinden. Das ist nicht dramatisch im Sinne eines Sprunges – kann aber doch revolutionär werden für die gesamte pharmazeutische Branche.“


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