„Mit digitalen Daten Konzepte entlang der gesamten Patient Journey denken“
- Wie sich der Digitale Gesundheitsmarkt gerade verändert,
- welche Rolle die Pharmaindustrie dabei spielt
- welche DiGAs sich langfristig durchsetzen werden,
- wo die Grenzen der Digitalisierung liegen
Health Relations: Sie befassen sich mit Digital Health und der Zukunft des Gesundheitswesens. An welchem Punkt stehen wir in Sachen Digitalisierung gerade?Inga Bergen: Wir haben neben der Corona-Pandemie derzeit viele neue regulatorische Rahmenbedingungen, die dazu geführt haben, dass sich das Angebot an digitalen Gesundheitsangeboten verändert hat. Das hat auf der Anbieterseite zu einer großen Dynamik geführt, auf die die Nachfrageseite noch nicht entsprechend dynamisch reagiert. Aber Gesundheit ist ein sehr persönliches Thema. Es hat viel mit menschlichem Verhalten, Vertrauen und dem Gefühl von Sicherheit zu tun. Es wird nicht von heute auf morgen passieren, dass die Menschen anfangen, alles digital zu machen, was sie vorher analog gemacht haben. Auf Anbieterseite bemerke ich eine Art "goldrush" und gleichzeitig kehrt Realismus ein, der zeigt, wie lange es dauert, bis sich solche Entwicklungen auch wirklich in der Bevölkerung verbreiten. Health Relations: Sie sagen es. Es scheint sich gerade herauszustellen, was sinnvoll ist und sich langfristig durchsetzen wird, aber sind wir grundsätzlich auf einem guten Weg oder gibt es Bereiche, in denen Ihrer Meinung nach noch viel passieren muss?Inga Bergen: Ich finde, dass wir auf einem guten Weg sind. Es ist bemerkenswert, dass die Grundlagen geschaffen wurden, damit die Digitalisierung auch in den Arztpraxen und in den Kliniken ankommt. In der Vergangenheit ist die Digitalisierung so sehr an den Bedürfnissen der Funktionäre im Gesundheitssystem ausgerichtet worden, dass die Bedürfnisse der eigentlichen Nutzer gar nicht stattgefunden haben. Wenn man die nämlich fragt, stellt sich häufig heraus, dass sie oft völlig andere Bedürfnisse und Anforderungen haben. Health Relations: Wie könnte man es besser machen?Inga Bergen: Bei einem meiner Unternehmen habe ich mit der Stoppuhr neben der Arzthelferin gestanden und versucht zu verstehen, welche Arbeitsabläufe sie hat und was sie im Alltag besonders nervt, denn sie ist diejenige, die die Lösung am Ende anwendet. Damit die digitalen Anwendungen auch genutzt werden, muss man sich erst ein Bild machen, wie die Arbeit der Nutzer aussieht und wie sich die Lösungen möglichst gut in den Workflow einfügt. Wir erleben gerade, dass ein Bewusstsein dafür entsteht, dass man auf diese Art Lösungen entwickeln muss. Das finde ich spannend, denn es zeigt eine Entwicklung. In der letzten Zeit ist nämlich der "middle man", also der Vermittler, wie etwa Verbands- und Interessenvertreter:innen keine mittelnde Rolle mehr spielen, sondern es zu direkten Verbindungen zwischen Hersteller:innen und Anwender:innen kommt und auf Grundlage dieser Verbindungen Produkte entwickelt werden.
"Ich glaube, dass wir uns gerade im Gesundheitswesen inmitten der ,Entzauberung' der Digitalisierung befinden, weil wir jetzt sehen, wo sie funktioniert und wo das eben nicht so einfach geht."Health Relations: Welche Rolle fällt den Pharmafirmen und ihrem Marketing innerhalb dieser Entwicklungen zu?Inga Bergen: In der Pharmabranche sagt man inzwischen, dass ein realer Kontakt ein Premium-Kontakt ist. Der remote Kontakt ist der Standard geworden. Das ist also gelernt worden. Grundsätzlich muss man aber sagen, dass das Thema digitale Produkte in der Branche sehr unterschiedlich gehandhabt wird. Manche Firmen sagen: Wir machen nur das, was direkt Profit bringt und lassen digitale Gesundheitsanwendungen, oder Patienten-Apps erst einmal außen vor, weil die in unseren Augen noch zu sehr am Anfang stehen. Es gibt aber andere, die darin die Zukunft sehen und davon ausgehen, dass es künftig kein Produkt ohne digitales Beigut geben wird. Health Relations: Liegen die richtig?Inga Bergen: Ja, digitale Therapeutika werden gerade bei den großen Volkskrankheiten ein Teil von neuen Versorgungskonzepten sein und unterstützend angewendet werden. Dabei werden die digitalen Anwendungen eine Grundlage schaffen, weil damit Daten transparent erhoben werden können und sie eine integrierte Versorgung, sowie auch (Sekundär-)Prävention ermöglichen. Dieser Datenzugang ist für Pharmaunternehmen relevant, weil sie damit erstmals Konzepte entlang der gesamten Patient Journey denken können. Health Relations: Jetzt haben wir viel darüber gesprochen, was man alles digitalisieren kann. Was ist denn nicht zu ersetzen?Inga Bergen:Ich glaube, dass wir uns gerade im Gesundheitswesen inmitten der „Entzauberung“ der Digitalisierung befinden, weil wir jetzt sehen, wo sie funktioniert und wo das eben nicht so einfach geht. Das ist überall da, wo man persönliches Vertrauen aufbauen muss. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Ich habe während der Pandemie viele Vorträge für Ärzt:innen gehalten und es gab sehr gutes Feedback, aber es kamen selten Fragen während der Online-Veranstaltungen. Ich habe mich immer gefragt, woran das liegt. Irgendwann mutmaßte ich, dass meine Zuhörer:innen zu wenig über das Thema wussten und sich deshalb wahrscheinlich nicht getraut haben, Fragen zu stellen. Es waren digitale Veranstaltungen und sie hätten die Fragen so stellen müssen, dass es jeder sehen konnte. In einer Präsenzveranstaltung hätten sie nach dem Vortrag auf mich zugehen können. Das sagt etwas darüber aus, welche Herausforderungen Hersteller bei ihren Entwicklungen gerecht werden müssen: Sie müssen auf der einen Seite die tiefen menschlichen Bedürfnisse verstehen und auf der anderen Seite die Produkte und Marken, die für Vertrauen stehen, entsprechend entwickeln. Das ist gar nicht so einfach.