Dr. Jörn Peter Halle ist Chief Strategy Officer, Unternehmensbereich Healthcare bei Merck – und somit Weichensteller für zukünftige Geschäftsentwicklungen. Flexibilität im Portfoliomanagement ist für ihn das A und O.
In diesem Interview erfahren Sie:- warum F&E und Strategie gut zusammenarbeiten sollten,
- warum Merck auf ein aktives Produktportfolio setzt und was das genau bedeutet,
- welche Megatrends Merck definiert hat,
- welche Rolle Ärzt:innen im Bereich Megatrend-Identifikation und Therapieentwicklung spielen.
Health Relations: Dr. Halle, was verbirgt sich hinter den Aufgabenbereichen, die Sie verantworten, ganz konkret? Womit beschäftigen Sie sich als Chief Strategy Officer bei Merck?Dr. Jörn Peter Halle:Ganz praktisch: Wir, mein Team und ich, beobachten das biopharmazeutische Umfeld, also andere Pharmafirmen – international und regional – aber eben auch technologisch orientierte Start-ups, kleinere Firmen, auch akademische Institute, um letztendlich zu verstehen, wie Innovation, Produktentwicklung und Kommerzialisierung im biopharmazeutischen Umfeld funktioniert. Welche Änderungen gibt es dort und welche Schlussfolgerungen können wir daraus ziehen, zum einen für unsere interne Entwicklung, für unsere Ressourcen-Allokation. Zum anderen geht es uns dabei vor allen Dingen um die Interaktion mit dem Umfeld, besonders im Forschungs- und Entwicklungsbereich. Wir schauen uns an, mit welchen akademischen Instituten, Biotech-Start up- oder Pharmafirmen wir eine Kollaboration eingehen könnten.
Health Relations: In der Pressemitteilung zu Ihrer Personalie hieß es, dass Sie sich in Ihrer Position an der kritischen Schnittstelle von Forschung und Entwicklung (F&E) und Strategie bewegen, wo mutige Entscheidungen vonnöten seien. Inwiefern ist diese Schnittstelle kritisch?Dr. Jörn Peter Halle:Ja, diese Schnittstelle ist vor allen Dingen äußerst interessant und wichtig für global forschende Pharmaunternehmen wie Merck eines ist. Unser Wachstum hängt natürlich sehr davon ab, welche Produkte wir in unserem Portfolio haben und wie wir im Bereich F&E aufgestellt sind. In einem modernen biopharmazeutischen Unternehmen ist das sehr stark abhängig von der Identifizierung von Trends und Innovationen. Welche Projekte gibt es, die besonders gut zu unseren Kompetenzen passen, wo gibt es vielleicht eine kleinere Firma, die globale Entwicklungsstrukturen für ihr innovatives Produkt braucht? Alles mit dem Ziel, die Produktentwicklung möglichst effizient und erfolgreich zu machen, den Patienten und Patientinnen zu helfen und darüber entsprechend auch Wertschöpfung zu generieren für die Firma. Dafür braucht es neben den genannten Punkten eben auch ein aktives Portfoliomanagement.
Health Relations: Heißt, das Portfoliomanagement ist einer ständigen Optimierung unterworfen, also immer in Bewegung?Dr. Jörn Peter Halle: Ja. Wir prüfen für unsere internen Projekte, ob wir wirklich die beste Firma oder der beste Partner für dieses Projekt sind. Können wir dieses Produkt am besten entwickeln und dann zum Patienten oder zur Patientin bringen oder ist ein anderes Unternehmen besser geeignet? Wo können wir Produkte ein- oder auch auslizenzieren?
"Wir fokussieren uns auf andere Gebiete und überlassen bestimmte Bereiche den Mitbewerbern."
Health Relations: Wenn ich Sie richtig verstanden habe, ist der kritische Punkt zwischen Strategie und F&E einfach auch der Größe Ihres Unternehmens und der Fülle an Möglichkeiten geschuldet, oder?Dr. Jörn Peter Halle:Ja, die Pharma-Welt wird immer interessanter und vielschichtiger. Zum Beispiel haben wir zum einen die personalisierte Medizin: Aus meiner Sicht ist das eine hervorragende Entwicklung. Man möchte genau den Patienten oder die Patientin und die Patientengruppe identifizieren, die besonders gut auf ein Produkt anspricht. Zum anderen haben wir neue Therapieformen. Zelltherapien, mRNA-Wirkstoffe, kleine chemische Moleküle, Antikörper-Wirkstoff-Konjugate, Proteine: Die Komplexität nimmt zu. Das heißt, selbst eine vergleichsweise große Firma wie wir muss sich auf bestimmte Bereiche fokussieren, in denen wir dann eben diese Kompetenzen haben und entsprechend nutzen können. Diese Fokussierung geht über die Therapiegebiete und entsprechend über die Forschung & Entwicklung. Wir können nicht die ganze Bandbreite abdecken. Das können selbst die größten Pharmafirmen nicht leisten.
Health Relations: Verlangt diese Fokussierung, die sie ansprechen, Mut von Ihnen als Stratege?Dr. Jörn Peter Halle:Ja, Mut zur Entscheidung. Wenn Sie mit unseren Wissenschaftlern reden, sind alle möglichen Ideen und Projekte spannend. Wir sehen in jedem Jahr mehrere hundert hoch spannende Innovationsprojekte, die von außen an uns herangetragen werden. Da muss man manchmal den Mut haben, Nein zu sagen. Nein, wir sind nicht die Richtigen. Wir fokussieren uns auf andere Gebiete und überlassen bestimmte Bereiche den Mitbewerbern. Oder übergeben ein Projekt an einen externen Partner, weil wir es auslizensieren. Dieser externe Partner ist dann viel besser geeignet, das Produkt erfolgreich zu entwickeln. Das ist manchmal schwierig. Das ist so, als würden Sie ein Kind in die Welt schicken, das Sie lange Zeit aufgezogen haben. Es ist für Forscher und Entwickler, die jahrelang ihr Herzblut gegeben haben, nicht immer ganz einfach, die „Kinder“ loszulassen und in die Welt zu schicken.
Health Relations: Können Sie mir ein Beispiel nennen, wo Sie „Nein“ gesagt haben?Dr. Jörn Peter Halle: Eines unserer Projekte, einen Phase-II-einsatzbereiten Anti-ADAMTS5-Nanobody zur Behandlung von Osteoarthrose, hat zum Beispiel Novartis aufgenommen und in sein Portfolio integriert. Oder ein anderes Beispiel aus der Onkologie: Hier haben wir in letzter Zeit kleinere Projekte, die letztendlich nicht mehr zu unserer Größe gepasst haben, an kleinere Start-ups auslizensiert.
Health Relations: Wir sprechen viel über das „Nein“. Lassen Sie uns kurz das „Ja“ ansprechen. Wo genau liegt der Fokus?Dr. Jörn Peter Halle: Unser Fokus hinsichtlich der Therapiegebiete liegt in der Forschung & Entwicklung im Bereich Onkologie, Immunologie und Neurologie, innerhalb der Neurologie auf Multiple Sklerose. Hinsichtlich der Therapieformen forschen wir u.a. mit kleinen chemischen Molekülen, Antikörpern und Proteinen und auch sogenannten Antibody Drug Conjugates (Antikörper-Wirkstoff-Konjugate, Anm. der Red.), die zielgerichtet Krebszellen vernichten können.
Health Relations: Wenn es um die Strategie und Entwicklung von Produkten geht: Welche Rolle spielen zum Beispiel die Fachgruppen, die sehr nah dran an der Praxis und am Patienten oder der Patientin sind?Dr. Jörn Peter Halle: Auf jeden Fall tauschen wir uns sehr intensiv mit akademischen Partner:innen aus. Mit Forscher:innen, Biolog:innen, Chemiker:innen, aber auch Ärzt:innen in Universitätskliniken, die tatsächlich sehr nah dran sind am Patienten oder der Patientin. Sie führen klinische Studien für uns oder auch andere Firmen durch und haben ein hohes Verständnis dafür, was die heutigen Möglichkeiten sind und wo es in der medizinischen Versorgung noch Lücken gibt. Welche Patient:innen werden nicht ausreichend versorgt, gibt es Patient:innen innerhalb einer Gruppe, die aus einem noch unbekannten Grund weniger gut auf eine Therapie ansprechen als andere Patient:innen. Das sind für uns wichtige Ansatzpunkte für einen gezielten Neustart eines Projektes. Aber auch der niedergelassene Arzt oder die Ärztin sind für uns interessant. Mit diesen sprechen wir dann weniger über die Wissenschaft, sondern mehr über die Praxis.
Health Relations: Schauen wir zum Abschluss in die Zukunft: Welche Megatrends zeichnen sich ab? Und wo liegen die Herausforderungen?Dr. Jörn Peter Halle: Wenn Sie an die Pandemie denken, daran, wie schnell die Vakzine entwickelt worden sind, steht die Frage im Raum, wie man das auch in den Alltag übertragen kann. Also, wie können wir die Entwicklung von Medikamenten beschleunigen? Das ist eine Herausforderung. Von steigender Bedeutung in der F&E wird auch der Real Wold Evidenz sein. Es zeigt sich, wie hoch der Erkenntnisgewinn sein kann, wenn wir Daten von großen Patientengruppen im Alltag dokumentieren und analysieren. Eine weitere Herausforderung ist die Digitalisierung. Damit verbunden steigt die Zahl von Daten und damit steigen auch die Möglichkeiten, Daten zu analysieren. Wenn Sie überlegen, wie wir in Pandemiezeiten profitiert haben von einem hoch digitalisierten Gesundheitssystem wie in Israel, wo wir immer sehr schnell gesehen haben, was funktioniert, was funktioniert nicht. Das sind alles Dinge, von denen wir auch in Deutschland lernen können.