Temedica hat die Analyse-Plattform Permea gegründet, die mit patientengenerierten Real-World-Daten wichtige Fragestellungen u.a. der Pharmaindustrie beantworten will. Gloria Seibert, CEO und Founder von Temedica, ist überzeugt: Transparenz und Nutzerfreundlichkeit müssen stimmen, wenn Künstliche Intelligenz und Machine Learing für Pharma ihren vollen Impact erreichen sollen.
In diesem Interview erfahren Sie:- Was Permea eigentlich ist und wieso das Ökosystem dahinter so wichtig ist
- Wie viele Nutzende die Plattform inzwischen hat
- Woher die Daten, die Permea nutzt, kommen
- Warum tauschen manchmal besser ist als zahlen
- Warum User Centricity die eigentliche Challenge ist
- Wie Seibert und ihr Team Fehlerquellen in der Arbeit mit KI & ML zu minimieren suchen
- Wie Permea mit all dem ganz konkret den Produktlaunch eines pharmazeutischen Produkts unterstützen könnte
- Welche Herausforderungen Gloria Seibert 2023 für die Pharmabranche erwartet
Health Relations: Die Plattform „Permea“ ging vor rund einem Jahr live, sie richtet sich speziell an Pharmaunternehmen. Was will sie erreichen und wie hat sie sich entwickelt?
Gloria Seibert: Kurz zum Verständnis: Hinter der Plattform „Permea“ liegt unser
Temedica-Ökosystem. Wir haben seit Tag eins die Vision, das Thema „personalisierte Medizin“ voranzubringen. Ich persönlich glaube, dass wir personalisierte Medizin nur dann erreichen, wenn sich alle Stakeholder im Gesundheitssystem zusammentun und gemeinsam den Weg zur Personalisierung ebnen. Aus meiner Sicht braucht es hier jeden und jede Beteiligte – sei es den Arzt oder die Ärztin, seien es Kliniken, seien es Apotheken, sei es die pharmazeutische Industrie oder auch die Patienten und Patientinnen. Eine große Hürde, die wir in Richtung personalisierter Medizin meistern müssen ist die Verfügbarkeit von Informationen und Wissen. Anders als in anderen Branchen wie eCommerce sind Informationen und Wissen in der Gesundheitsbranche eben nicht für jedermann jederzeit verfügbar. Und hier schließt sich der Bogen: Wir generieren Wissen durch die Kombination von unterschiedlichsten Informationen und Datenpunkten und machen dieses Wissen verfügbar – und zwar für jede:n Teilnehmer des Gesundheitssystems. Permea ist die Schnittstelle zu unserem Ökosystem für Pharma- und Biotechunternehmen.
Health Relations: Wie viele Unternehmen nutzen diesen Zugang denn inzwischen?Gloria Seibert:
Wir haben mittlerweile eine ordentliche, zweistellige Anzahl von Partnern: Big Pharma wie kleine, internationale und nationale Unternehmen, von Originatoren über Generika bis hin zu OTC. Sie alle nutzen Permea, um sehr spezifisch für sich unterschiedliche Fragestellungen zu addressieren wie beispielsweise ein besseres Verständnis über die Versorgungsrealität von Patient:innen.
Health Relations: Permea liefert Daten, um Fragen zu beantworten. Was sind das für Daten, woher kommen diese Informationen?Gloria Seibert:Wir ziehen unterschiedlichste gesundheitsrelevanten Daten zusammen, selbstverständlich auf eine DSGVO-konforme Art und Weise mit aktiver Zustimmung aller Beteiligten, immer anonymisiert und damit ohne Personenbezug. Das sind zum Beispiel klassische Versorgungsdaten, Patienten-Konversationen, Abverkaufsdaten, Registerdaten, Publikationen- und Zulassungsdaten sowie wissenschaftliche Erkenntnisse. Für uns ist Real-World-Evidence alles, was außerhalb vom klassischen Studiensetting generiert wird – das fließt alles in unserem Ökosystem zusammen und wird zu neuen Erkenntnissen weiterverarbeitet.
Health Relations: Wie kann ich mir das vorstellen, wie kommen die Daten ins System und was sind das für Erkenntnisse?Gloria Seibert:Ein niedergelassener Arzt oder eine Ärztin hat ganz andere Fragestellungen und Herausforderungen als ein forschendes Pharmaunternehmen oder als der Patient/die Patientin selber. Wir möchten all diesen Bedürfnissen gerecht werden und allen die Möglichkeit schaffen, relevantes Wissen und Informationen herauszunehmen. Das Ganze basiert auf einer Art Tauschgeschäft: Jeder, der/die auf unser Wissen zugreifen möchte, legt im Gegenzug etwas ein. Das sind manchmal eigene Datensätze oder eine Bezahlung in Form von Geld. So hat jeder Stakeholder die Möglichkeit, am Ökosystem zu partizipieren und gleichzeitig wächst die Informationsmenge von Tag zu Tag. Das führt auch dazu, dass wir auf diese Weise Zugriff auf extrem viele Datensets haben, an die man sonst schwierig oder gar nicht herankommt.
Beispiel für ein Dashboard von Permea. Datensätze werden ausgewertet und je nach Zielsetzung übersichtlich visualisiert. Anwenderfreundlich und effizient. © Temedica
Health Relations: Die Kunst ist es dann also, die Daten, mithilfe von maschinellem Lernen und KI auszuwerten, so dass jeder und jede die Ergebnisse bekommt, die er oder sie auch benötigt.Gloria Seibert:Vereinfacht gesagt, ja. Das ist tatsächlich auch eine unserer größten Herausforderungen, den gemeinsamen Nenner über alle beteiligten Stakeholder zu schaffen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Stellen Sie sich vor, Sie haben Multiple Sklerose und Ihnen geht es regelmäßig sehr schlecht. Was hilft Ihnen am meisten? Sie suchen nach Tipps und Hinweisen, wie Sie Ihren Alltag so gestalten können, dass es Ihnen weniger schlecht geht. Wenn Sie über unsere Multiple Sklerose-App „Brisa“ beispielsweise erfahren würden, dass andere Patientinnen in Ihrem Alter, mit Ihrer Diagnose und Therapie besonders empfindlich auf Wetterumschwünge reagieren und es ihnen hilft, an solchen Tagen besonders viel Wasser zu trinken, dann wäre dies eine enorm hilfreiche Information für Sie, die Ihnen das Leben signifikant erleichtern würde.
Nun nehmen wir den niedergelassenen Neurologen, der Sie behandelt. Dieser interessiert sich nicht nur für Ihr individuelles Krankheitsprofil, sondern für diesen wäre es wahnsinnig hilfreich zu erfahren, wie sich einzelne Patientenpopulationen unterscheiden und wie man für diese eine optimale Versorgung abbilden kann.
Nehmen wir nun das pharmazeutische Unternehmen hinter der Therapie, die Sie erhalten: dieses muss Studien durchführen, Zulassungsverfahren durchlaufen, und Herausforderungen bei der Kommerzialisierung meistern.
Mit unserem Ökosystem und der Tauschgeschäfts-Idee dahinter haben wir einen Weg gefunden, für alle genannten Stakeholder einen Weg zu finden, Antworten für ihre Fragen und Herausforderungen zu bekommen. Dafür haben wir unterschiedliche „Interfaces“ zu unserem Ökosystem geschaffen: Die Permea-Plattform ist sozusagen die Eingangspforte für die Pharma- und Biotechunternehmen. Sie erhalten ein übersichtliches Dashboard und können damit Erkenntnisse in Echtzeit einsehen. Für Patient:innen bieten wir indikationsspezifische Apps, die auf eine motivierende und situationsabhängige Art und Weise die Patient:innen an die Hand nehmen und diese individuelle auf ihrer Patient Journey begleiten.
Health Relations: Für wie viele Indikationen funktioniert das?Gloria Seibert: Wir bilden aktuell über 50.000 ICD Codes ab, also wirklich alles von A wie Alzheimer bis hin zu Z wie Zöliakie. Die einzige Einschränkung, die wir haben: Wenn keine Informationen existieren, dann können wir auch keine Antworten liefern. Das ist vor allem im Rare-Diseases-Bereich manchmal der Fall.
Health Relations: Es gibt aber das große Problem der Qualität der Datensätze. Und damit sind wir beim Punkt der Diversität und bei der Gender Medizin. Wie stellen Sie sicher, dass Sie mit Blick auf diese Themen sauber arbeiten?Gloria Seibert:Primär ist es für uns wichtig, erst einmal so viele heterogene Informations- und Datenquellen wie möglich einzubeziehen. Jede Informationsquelle, die wir verarbeiten, besitzt für sich eine gewisse Aussagekraft. Sie hat aber auch ihre Schwächen. Unser Ansatz ist es, die Stärken der einzelnen Quellen zu nutzen und durch eine Verknüpfung der Daten miteinander Synergien zu schaffen: damit eins plus eins mehr ergibt als zwei. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Stellen Sie sich vor, Sie kommen in einen Raum, der komplett dunkel ist. Sie schalten nun in einer Ecke oben eine Taschenlampe an, die in den Raum strahlt. Dann haben Sie genau einen Lichtkegel in die gegenüberliegende Ecke, die nun ausgeleuchtet wird. Jetzt wissen wir, wie es in der gegenüberliegenden Ecke ausschaut, aber wir wissen nicht, wie der übrige Raum aussieht. Nun schalten wir eine weitere Taschenlampe an. Der Raum wird nie komplett ausgeleuchtet sein, aber durch die Verbindung der unterschiedlichen Lichtkegel ergibt sich ein gutes Bild im Raum. Was in diesem Beispiel die Taschenlampen sind, sind bei uns im Temedica Ökosystem die unterschiedlichen Datenqellen und -arten.
Neben dem Ziel, ein möglichst objektives Bild der Realität zu schaffen, achten wir auch besonders auf die Aussagekraft der zugrundeliegenden Informationen und Daten. Jedes Mal, wenn wir für eine spezifische Fragestellung Daten aus dem Ökosystem nutzen, müssen diese statistische Prüfverfahrungen durchlaufen um ihre Aussagekraft auch zu belegen. Damit können wir vor allem Diversität und Themen wie z.B. Gender Medizin adressieren. Im Falle von Pharmaunternehmen gibt es ja auch unterschiedliche Anforderungen an Datenqualität, wenn wir beispielsweise Market Access mit Marketing vergleichen.
Health Relations: Das heißt aber dann auch, dass die Prozesse, die unter Zuhilfenahme von KI und maschinellem Lernen ablaufen, nachvollziehbar sind, oder?Gloria Seibert:Absolut, wir machen alles nachvollziehbar. Ob wir jetzt mit Ärzt:innen arbeiten, mit Pharmaunternehmen oder auch Informationen für Patient:innen aufbereiten: die Grundlage dessen, wie wir an ein Ergebnis gekommen sind, ist immer transparent und nachvollziehbar. Sonst würden wir schnell das Vertrauen unser Anwendenden verlieren.
Health Relations: Kommen wir noch einmal auf die pharmazeutische Industrie zurück. Wie nehmen Sie diese wahr? Wie digital und datengetrieben arbeiten diese?Gloria Seibert:Die pharmazeutische Industrie ist sehr evidenzgetrieben – mit Daten und Informationen zu arbeiten, ist für Pharma nichts Neues. Aber das, was wir tun, also Real-World-Datenquellen zu verknüpfen und daraus Antworten auf relevante Fragen zu generieren, haben die meisten, mit denen wir sprechen, dann doch noch nie gesehen. Wir sehen die Zusammenarbeit in der Pharma- und Life Sciences-Industrie immer partnerschaftlich. Nach dem Motto: „Lasst uns gemeinsam in die Daten gucken und das Beste aus Permea rausholen.“
Health Relations: Nehmen wir das Beispiel Produkt-Launch. Wie kann Permea der Produktmanagerin oder dem Produktmanager denn konkret helfen, wie würde das aussehen?Gloria Seibert:
Nehmen wir noch einmal das Beispiel Multiple Sklerose: In unserem Permea Monitor kann die Produktmanagerin oder der Produktmanager einzelne Regionen auswählen und quasi in Echtzeit die Versorgungsrealität einzelner Patientenkohorten einsehen: wie viele Patient:innen leiden unter einer speziellen Subform der MS? Wie verteilt sich Alter und Geschlecht? Welche Ärzt:innen besuchen sie? Sind es Neurolog:innen? Sind es Radiolog:innen? Sind es Hausärzt:innen? Welche weiteren Erkrankungen haben sie? Diabetes, Kopfschmerz, Migräne? Welche Medikationen nehmen sie und welche Interventionen bekommen sie?
Ebenso kann die Produktmanagerin oder der Produktmanager Informationen rund um die Kommerzialisierung in einzelnen Regionen einsehen. Hierbei geht es um Fragen wie: Welche Präparate generieren denn eigentlich in welcher Region welche Umsätze? Von wem werden sie verordnet? Welche anderen Präparate werden verkauft?
Dann haben wir noch eine dritte Dimension im Permea-Monitor, hierbei geht es um die Patient-Journey einzelner Patient:innen-Gruppen und die Frage, wie sich diese durch das Gesundheitssystem bewegen, warum sie Therapien abbrechen oder wechseln und so weiter.
Für Patient:innen entwickelt Temedia Begleit-Apps, die mit personalisierter Ansprache arbeiten. © Screenshot Temedica.com
Health Relations: Würden Sie sagen, 2022 ist die Pharmabranche in Sachen Digitalisierung vorangekommen?Gloria Seibert: Ich würde sagen, es ist wie bei so vielem: Es ist Einiges passiert, da war aber noch Luft nach oben. Ob wir jetzt auf die schnellste und effizienteste Art und Weise vorankommen, würde ich infrage stellen. Was mich aber wirklich freut, ist, die Pharmaunternehmen, mit welchen wir sprechen und zusammenarbeiten – und das sind mittlerweile eine ganze Menge – sind allesamt extrem motiviert, neugierig und haben Lust, Themen voranzubringen und zu verbessern. Das hat so gar nichts von „verstaubter, langsamer Branche“ – ein paar schwarze Schafe gibt es überall, aber die sehen wir wirklich selten.
Health Relations: Wenn wir jetzt in die nächsten Monate schauen. 2023: Welche Herausforderungen sehen Sie für die Pharmabranche und welch zentralen Themen werden die Branche beschäftigen?Gloria Seibert: Vor dem Hintergrund des noch einmal größer werdenden Kostendrucks, ist es aus meiner Sicht das Thema Effizienz. Ich glaube, Effizienz ist das absolute A und O. Wie kriege ich mit den Ressourcen, die ich habe, meine Ziel umgesetzt? Wie komme ich auf die effizienteste Art und Weise zum Ziel? Ich glaube, wir erleben gerade eine sehr spannende Phase der Veränderung, in der es heißt Alternativen zu finden und neue Wege zu gehen. Eine perfekte Ausgangslage für junge, innovative Unternehmen wie wir!
Health Relations: Welche Herausforderungen und Themen haben Sie für Ihr Unternehmen auf dem Zettel in 2023?Gloria Seibert:Unternehmerisch erleben wir gerade eine hochspannende Zeit. Wir sind mit Temedica nun in eine Phase gewachsen, in der es sehr stark um das Thema Fokussierung, Skalierbarkeit und Professionalisierung geht. Wir sind kein Start-up mehr, wir sind zu einer Organisation gewachsen. Das ist ein bisschen, wie wenn das eigene Kind plötzlich in die Pubertät kommt und alleine loszieht. Ich beobachte das mit einer Mischung aus Freude, Dankbarkeit und auch Stolz, was wir da gemeinsam geschafft haben. Ein Ökosystem für viele Stakeholder im Gesundheitssystem zu bauen ist dann irgendwie doch deutlich komplexer gewesen als die nächste eCommerce-Plattform für Vogelfutter.
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