Gentherapien versprechen die Heilung angeborener Krankheiten. Sie stellen uns jedoch vor ethisch-medizinische Herausforderungen. Dr. Jürgen Bausch diskutiert die Problematik am Beispiel der Bluterkrankheit.
Mit Hochdruck werden vor allem in den USA Arzneimittel entwickelt, die das menschliche Genom unmittelbar an ganz genau markierten Stellen verändern.
Als ein Beispiel von vielen sei Kymriah erwähnt, das im Sommer 2017 in der USA von der FDA-Zulassungsbehörde zur Behandlung der seltenen akuten lymphatischen B-Zell-Leukämie zugelassen wurde. Konkret gilt die Zulassung für Kinder und Jugendliche bis zu 25 Jahren, bei denen herkömmliche Therapien, inklusive der Stammzelltransplantation, unwirksam geblieben sind. Für die Betroffenen ist das eine schlimme Situation mit infauster Prognose.
Kymriah: Genom-Veränderung als letzte ultimative Überlebenschance
Bei dem Kymriah-Therapieverfahren werden dem Patienten Immunzellen entnommen und im Labor gentechnisch so verändert, dass sie anschließend in den Körper des Kranken reinfundiert werden und dort die Krebszellen abtöten.
Da diese Therapie die letzte ultimative Überlebenschance für die Kinder und jungen Erwachsenen darstellt, wird die Einwilligung in diese Behandlung durch die Eltern voraussichtlich unproblematisch sein. Gegenwärtig weiß jedoch niemand, welches Lebensschicksal so behandelte Menschen und gegebenenfalls ihre Nachkommen erfahren werden, sofern sie die kritische Leukämiephase geheilt überstanden haben. Jedwede Langzeitergebnisse fehlen zurzeit natürlich.
Hämophilie A und B: Die Gentherapie als Alternative zu bereits etablierten Therapien
Anders liegt der Fall jedoch, wenn man bei einem Leiden im Kindesalter eine Genom-Veränderung vornimmt, obwohl es bereits andere wirksame und etablierte Therapien gibt. Dies steht bei der Hämophilie A und B möglicherweise in gar nicht ferner Zukunft bevor. Hier wird es ethisch und rechtlich problematisch.
Bekanntlich fehlt bei dieser erblichen sogenannten „Bluterkrankheit“ ein wichtiges Protein in der Gerinnungskaskade, nämlich der Faktor VIII für die Hämophilie A oder der Faktor IX für die B-Hämophilie. Unbehandelt führt dies vor allem in den schweren Stadien zu einer Katastrophe: Operationen sind nahezu unmöglich, Unfälle durch Blutungen komplikationsreich.
In beiden Hämophilie-Varianten gibt es hervorragende rekombinante Ersatzproteine, die – allerdings hochpreisig – überall in den Industrieländern als Infusion verfügbar sind, um zuverlässig Blutungs-Komplikationen zu behandeln oder prophylaktisch zu vermeiden. Allerdings halten die Substitutionen den fehlenden Faktor zeitlich nicht lange vor und müssen deswegen – je nach Schwere des Faktormangels – häufig wiederholt werden. In seltenen Fällen kommt es auch zu Immunreaktionen mit Antikörperbildungen, die die klinische Wirkung der substituierten Faktoren stark beeinträchtigen können.
Durch einen therapeutischen Eingriff in das Genom scheint es jetzt zu gelingen, den angeborenen Defekt zu beheben. Die Kinder können wieder genügend eigene Mengen ihres Faktors VIII oder IX produzieren. Nur sehr selten scheinen nach ersten Ergebnissen der bisherigen Phase-I-Studien noch zusätzliche Substitutions-Infusionen mit rekombinanten Faktoren erforderlich zu sein. Noch ist die Fallzahl klein, und die Ergebnisse lassen viele Fragen unbeantwortet. Langzeit-Ergebnisse fehlen, aber der Weg scheint gebahnt.
Zurzeit weiß niemand, wie sich dieser Eingriff in das menschliche Genom der Kinder mit Faktormangel langfristig auswirken wird. Das gilt sowohl für den Lebensentwurf eines auf diese Weise gentechnisch behandelten Kindes im späteren Erwachsenenalter, als auch für eventuelle Nachkommen.
Wie vertretbar ist der Einsatz von Genom-Veränderungen?
Daraus ergeben sich – im Gegensatz zu dem Beispiel Leukämie – ethische Fragen: Dürfen Eltern eines Kindes mit Faktor-VIII- oder IX-Mangel einer solchen Behandlung zustimmen, für die es eine etablierte und vertretbare – wenn auch aufwändige – Substitutionstherapie gibt? Und umgekehrt gedacht: Ergeben sich bisher unbekannte ernste Spätfolgen eines solchen Eingriffs, die nicht zum Tod führen, aber den Patienten mit einem chronischen Leiden im Erwachsenenalter schwer belasten? Müssen dann nicht die Eltern wegen ihrer Zustimmung mit dem Vorwurf leben, eine ungerechtfertigte Einwilligung gegeben zu haben? Und was ist mit der Vererbung eines antherapierten Defekts auf zukünftige Generationen?
Bei dem Fehleinsatz von Contergan oder Duogynon in der Gravidität waren die schlimmen Folgen seinerzeit zunächst unbekannt. Die geschädigt Geborenen und ihre Mütter tragen an diesem Schicksal bis heute. Die Diskussion über das Verbot von Circumcisionen bei Kindern aus nicht-medizinischen Gründen ist nicht beendet.
Aber gerade weil es in der Vergangenheit zu solchen Katastrophen gekommen ist und weil die Erfindung eines Weges, eine schwere Erbkrankheit gentechnisch reparabel zu machen, faszinierend ist, gilt es dennoch in den Fällen innezuhalten, wo die Gentherapie eine konkurrierende Alternative zu wirksamen und etablierten Therapieverfahren darstellt.
Natürlich ist man im Nachhinein immer schlauer. Denn hält man jetzt diese neue Möglichkeit ganz zurück – oder begrenzt sie auf eine kleine Subgruppe der schweren Hämophilie-Hemmkörperpatienten – und es stellt sich nach 20 Jahren heraus: Das neue Therapieverfahren ist eine dauerhafte Heilung eines angeborenen Leidens ohne nennenswerte Komplikationen, dann wird man vielen jungen Menschen einen zukunftsträchtigen innovativen Therapieweg vorenthalten, der sie davon befreit, drei- bis viermal in der Woche durch eine Infusion substituiert zu werden.
Therapieentscheidungen sind jedoch kein Lotteriespiel. Und man kann weder die behandelnden Ärzte noch die sorgeberechtigten Eltern mit dieser vor allem ethischen, aber auch medizinischen Frage alleine lassen.
Es wird im Gefolge der Erforschung und Entwicklung von Gentherapien – bekanntlich ein Milliardenprojekt – genügend begeisterte wissenschaftliche Apologeten geben, die mit gewaltigen wissenschaftlichen Gutachten all solche kleinlichen und antiquierten Besorgnisse über eine neue „segensreiche“ Therapie in den Wind schlagen werden. Kein Zweifel: Ein angeborener Defekt ist zumeist ein Gendefekt. Wenn man diesen mit dem immer besser werdenden Reparaturkasten der Gentherapeuten „herausoperiert“, dann korrigiert man etwas, was die Natur über Jahrmillionen falsch gemacht hat. Das ist eine faszinierende Idee – und gewaltig, wenn es gelingen sollte.
Dennoch: Bereits vor 500 Jahren hat der Florentiner Politiker und Philosoph Niccolò Machiavelli eine sehr weitreichende und zutreffende Erkenntnis zu Papier gebracht, die unverändert gilt: „Es liegt in der Natur der Dinge, dass man nicht ein Übel beseitigen kann, ohne dass es an einer anderen Stelle wieder auftaucht.“
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