Als erstes Pharmaunternehmen verpflichtet sich Lilly Deutschland den Zielen der Gemeinwohl-Ökonomie und hat sich dieses bilanzieren lassen. Nicole Weichelt und Oliver Stahl haben den Prozess von Beginn an begleitet. Über Hürden, Wettbewerbsvorteile und die neue Unternehmenskultur.
Health Relations: Glückwunsch, Lilly Deutschland ist das erste gemeinwohlbilanzierte Pharmaunternehmen in Deutschland. Wie groß war der Applaus in der Branche?Oliver Stahl: Leise, was aber daran liegt, dass wir die Bilanzierung nicht an die große Glocke gehängt haben. Applaus kam eher von Unternehmen aus anderen Branchen, die sich bereits mit der Gemeinwohl-Ökonomie auseinandergesetzt haben.

Info: Gemeinwohlökonomie

Gemeinwohl-Ökonomie bezeichnet ein Wirtschaftssystem, das auf gemeinwohl-fördernden Werten aufgebaut ist. Sie ist ein Wirtschaftsmodell, in dem das gute Leben für alle das oberste Ziel ist. Für die Bilanzierung werden deshalb alle Aspekte eines Unternehmens wie Sinnhaftigkeit der Produkte, Mitarbeiterzufriedenheit, Kundenzufriedenheit, ethische Grundwerte, Umgang mit Geldmitteln oder Menschenwürde und Zulieferkette bewertet und mit Punkten versehen. Lilly Deutschland erreichte im ersten Testat 318 Punkte. Zum Prinzip der Gemeinwohlbilanz zählt die Transparenz. Das Testat ist hier einsehbar: https://rw-cct.de/audit/ workflow_anzeige/?audit_ser_firmenid=4581
Health Relations: Eine Gemeinwohlbilanzierung ist ein langwieriger Prozess, der tief in alle Bereiche des Unternehmens eingreift. Warum haben Sie Ihren Erfolg bisher kaum kommuniziert?Oliver Stahl: Wir sind uns noch unschlüssig, wie wir es einbinden. Zudem haben wir in den letzten Jahren wenig über uns als Unternehmen kommuniziert. Wir stellen uns aber gerade neu auf, so dass hier sicherlich in Zukunft mehr passieren wird. Nicole Weichelt: Der Punkt der Öffentlichkeitswirksamkeit war von Beginn an nachgelagert und nicht der Grund für den Prozess der Zertifizierung. Es ging uns viel mehr darum, uns selbst kenntlich zu machen, wo wir stehen und an welchen Punkten wir innerhalb unserer Abläufe und der Zusammenarbeit mit Mitarbeitern oder Partnern besser werden können. Oliver Stahl: Dafür ist das Thema Gemeinwohl-Ökonomie auch gut geeignet, da man sich wirklich alle Bereiche des Unternehmens anschaut und nach einem Regelwerk prüft, wie gut es im Sinne des Gemeinwohls performt. Für uns war der Prozess tatsächlich mehr ein Tool, um uns selbst zu überprüfen, und das messbar.
"Die Bilanzierung war für uns ein logischer Schritt, auch, um transparent zu bleiben und der Versuchung zu widerstehen, Dinge schönzureden."
Health Relations: Zumal Sie zeitgleich weitere Projekte im Unternehmen verankert haben wie die Augenhöhe-Kultur.Nicole Weichelt: Genau. Bereits 2016 haben wir begonnen, uns mit der Gemeinwohl-Ökonomie zu beschäftigen. Wir etablierten zu diesem Zeitpunkt die Augenhöhe-Kultur (wir berichteten) und stolperten dabei über das Thema GWÖ. Die Augenhöhe-Kultur beschäftigt sich vor allem mit der internen Zusammenarbeit. Die Gemeinwohl-Ökonomie geht weiter, umfasst alle Bereiche immer mit der Frage: Wie können wir alle gut zusammenarbeiten, wie können wir das Leben für alle besser machen? Ich stellte die GWÖ auf unserer damaligen Konferenz für Führungskräfte vor und einige Mitarbeiter interessierten sich sofort für dieses Thema. Also gründeten wir im Anschluss ein selbstorganisiertes Team von ungefähr zehn Leuten, die sich in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen trafen, immer mit zu wenig Zeit für all das, was wir anpacken wollten. Neuer Schwung kam durch die Leadership Konferenz 2018 ins Spiel. Mit der Präsentation unserer Arbeit konnten wir mehr Mitarbeiter für die Idee gewinnen, uns mit weiteren selbstorganisierten Teams zusammenschließen. Diese crossfunktionale Unterstützung aus den unterschiedlichsten Bereichen hat viel bewegt. Die Bilanzierung war für uns ein logischer Schritt, auch, um transparent zu bleiben und der Versuchung zu widerstehen, Dinge schönzureden. Oliver Stahl: Hinzu kam, dass wir 2018 unsere Firmenvision für Lilly Deutschland weiterentwickelt haben: Wir wollen das menschlichste und kundenfreundlichste Pharmaunternehmen werden und zur Gesundheit in unseren Ländern beitragen. Die verschiedenen Säulen, auf denen die Vision ruht – zum Beispiel Respekt, Arbeiten auf Augenhöhe oder Nachhaltigkeit – finden sich in der Gemeinwohlbilanz wieder. Damit ist sie auch ein Messinstrument für uns, um zu prüfen, wo wir bei der Umsetzung unserer Vision stehen. Bei Pharmaunternehmen denkt man automatisch an Medikamente. Wir wollen das weiterdenken. Health Relations: Mit einem Messinstrument entzieht man sich auch dem Vorwurf des Greenwashings oder der Arbeit mit hohlen Buzzwords, oder?Oliver Stahl: Transparenz hilft, klar. Welches Unternehmen hat nicht Kundenzentrierung und Nachhaltigkeit auf der Website stehen. Aber nochmal: Für uns ist die Gemeinwohl-Ökonomie eine gute Möglichkeit, unsere Vision zu verwirklichen und auch zu erkennen, wo unsere Grenzen als börsennotiertes Unternehmen sind. Und dann merkt man schnell, dass es mehr Möglichkeiten als Grenzen gibt.
"Auf dem Arbeitsmarkt ist die Gemeinwohlbilanz ein klarer Wettbewerbsvorteil."
Health Relations: Sie sprechen es an: Lilly ist ein gewinnorientiertes, internationales Börsenunternehmen. Gehen Wirtschaftlichkeit und Gemeinwohl-Ökonomie zusammen?Oliver Stahl: Ja, weil sie im Wettbewerb ein Differenzierungsmerkmal darstellen kann. Soziale Standards, Nachhaltigkeit, faire Arbeitsbedingungen, diese Themen stehen zunehmend im Fokus. Wenn man sich einige andere Branchen anschaut, Stichwort Fleischindustrie, deren Kerngeschäft bedroht wird, weil sie am falschen Ende sparten oder bei einem der Themen versagten, sehen wir, was das für Auswirkungen haben kann. Für uns ist klar: Ein Unternehmen muss vernünftig mit der Umwelt, seinen Mitarbeitern und mit anderen Stakeholdern umgehen. Das schafft Vertrauen und Transparenz. Health Relations: Und doch werden Sie als börsennotiertes Unternehmen an einigen Punkten wie der Lieferkette Kompromisse machen müssen, oder?Oliver Stahl: Wir stehen hinter unserem Geschäftsmodell. Wir sind nicht der Versuchung anheimgefallen, zu sagen: Wir sind ein börsennotiertes Unternehmen, damit sind wir in unseren Möglichkeiten limitiert, lassen wir das. In vielen Dimensionen können wir viel tun. Mobilität. Fahrzeugflotte. Bis hin zu nachhaltigen Werbematerialien und Druckprodukten. Erfüllen unsere Lieferanten soziale Standards, wie nachhaltig arbeiten sie? Es gibt keinen Gegensatz zwischen Gemeinwohl und wirtschaftlichem Erfolg und gewinnorientiertem Geschäftsmodell. An den Punkten, an denen wir als Teil eines internationalen Konzerns an unsere Grenzen kommen, versuchen wir, Impulse weiter in die globale Organisation zu geben. Nicole Weichelt: Ich bin überzeugt, es muss eine Veränderung geben im Wirtschaftssystem. Im Grunde machen wir jetzt nichts, was wir nicht ohnehin in wenigen Jahren machen müssten. Wir gehen diesen Weg nur schon jetzt. Health Relations: Und das still und leise. Wenn die Gemeinwohlbilanz ein Differenzierungsmerkmal sein kann, werden Sie es sicherlich zukünftig in Ihre Kommunikation einbinden müssen, oder?Oliver Stahl: Es wird weniger ein Thema in der Außenkommunikation mit dem Arzt sein als in der Unternehmenskommunikation. Da passt es hin. Wir merken zudem in Bewerbungsgesprächen, dass unser Engagement bei potenziellen Mitarbeitern gut ankommt. Auf dem Arbeitsmarkt ist die Gemeinwohlbilanz ein klarer Wettbewerbsvorteil. Nicole Weichelt: Außerdem möchten wir andere Pharmaunternehmen motivieren, gleiches zu tun. Wir wollen, dass das Thema bekannter wird. Health Relations: Sie beschreiben, dass viele Mitarbeiter sich von der Dynamik haben mitreißen lassen. Kann die Gemeinwohl-Ökonomie Mitarbeiter und Talente an ein Unternehmen binden und die Identifikation mit diesem fördern?Oliver Stahl: Wir haben keine Daten für Lilly Deutschland, aber die Reaktion der Mitarbeiter unterstützt die These, dass die personelle Fluktuation kleiner wird. Auch langjährige Mitarbeiter lassen sich anstecken, arbeiten mit in den selbstorganisierten Teams, setzen wichtige Impulse, suchen sich selbstständig Sponsoren für ihre Ideen. Sponsoren sind Mitglieder der Geschäftsleitung, die als Sprachrohr dienen. All das unterstützt übrigens auch die Agilität. Die brauchen wir, denn für die hierarchischen Strukturen ist unser Geschäftsmodell inzwischen zu komplex. Das macht uns am Ende dann wieder wettbewerbsfähiger. Health Relations: Wie groß ist die Gefahr, in alte Führungsrollen zurückzufallen?Nicole Weichelt: Groß. Im Arbeitsalltag geht viel unter, aber dafür ist ein Bilanzierungsprozess gut. Der wird laufend fortgeführt und stellt damit sicher, dass wir uns stetig verbessern, und das nachvollziehbar. Außerdem haben wir unser sogenanntes Leadership Challenge Team, das uns als Mitglieder der Geschäftsleitung fordert und regelmäßig direktes Feedback gibt. Bei der nächsten Zertifizierung wollen wir auf jeden Fall eine höhere Punktzahl erreichen. Health Relations: Wo haben Sie denn die meisten Punkte geholt in der ersten Bilanz?Nicole Weichelt: Bei den Mitarbeitern. Health Relations: Und wo haben Sie am schlechtesten abgeschnitten?Oliver Stahl: Bei den Lieferanten. Gott sei Dank nicht, weil wir sie schlecht behandeln oder gar ausbeuten. Aber die Gemeinwohl-Ökonomie nimmt Unternehmen auch in die Pflicht, ethische Arbeitsbedingungen bei seinen Lieferanten nachzuhalten und zu dokumentieren. Das haben wir bisher noch nicht konsequent genug getan. Besser geht sicherlich immer und auf die insgesamt 1000 Punkte, die man als Unternehmen in der Gemeinwohlbilanz erreichen kann, werden wir es vielleicht nie bringen. Das heißt aber nicht, dass wir den Kopf in den Sand stecken und das akzeptieren. Wir suchen die einzelnen Schrauben, an denen wir drehen können, um uns weiter zu verbessern im Sinne der Gemeinwohl-Ökonomie und eines besseren Lebens für alle.
Nicole Weichelt (44) ist seit 2008 bei Lilly Deutschland beschäftigt und leitet seit 2016 die Rechtsabteilung der deutschen, österreichischen und schweizerischen Niederlassungen. Sie ist eine der Initiator*innen der Gemeinwohlbilanz.Oliver Stahl (45) ist seit über 19 Jahren im Unternehmen tätig und seit über acht Jahren verantwortlich für den Bereich Market Access / Corporate Affairs für Deutschland, Österreich und Schweiz. Auch er hat den Prozess der Gemeinwohlbilanz von Beginn an begleitet.
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