Marketing Automation: Alle niedergelassenen Onkologen, die in letzter Zeit nach „Innovationen in der Krebstherapie“ gesucht haben und gerne neue Medikamente verschreiben, sehen Ihre Anzeige.
Willkommen in der schönen neuen Welt der Marketing Automation! Der Begriff bezeichnet Softwarelösungen, die eine automatisierte und personalisierte Kommunikation mit potenziellen Kunden ermöglichen. In diesem Interview sprechen wir mit dem Digital-Health-Experten Klaus Mueller, Geschäftsführer von
TWT Digital Health, über die Bedeutung des datengetriebenen Online-Marketings für die Pharmaindustrie. Welche Herausforderungen, Fallstricke und Chancen gibt es?
Health Relations:Mit Marketing Automation können Kampagnen effektiver geplant und umgesetzt werden. Welche besonderen Herausforderungen sehen Sie in Bezug auf die Pharmaindustrie?Klaus Mueller: Natürlich sind die Rahmenbedingungen in der Pharmaindustrie allein durch die rechtlichen und ethischen Vorgaben anders als bei Amazon & Co. Man kann hier sicher nicht eben mal schnell ein paar Dinge ausprobieren und dann sehen, was funktioniert und was nicht. Die hohen Ansprüche an Rechtssicherheit und Verifizierbarkeit – oft getrieben aus Angst vor dem nächsten Audit und dem abmahnenden Mitbewerber – generieren natürlich vor allem auch bei Legal entsprechende Aufwände. Und manchmal auch ein bisschen Nervosität… (lacht).
Health Relations:Datenbasiertes Marketing setzt ein gewisses Vertrauen in Algorithmen voraus. Wie hoch schätzen Sie die Bereitschaft der Pharmaindustrie ein, diese zu nutzen?Klaus Mueller ist Geschäftsführer von TWT Digital Health in Heidelberg. Seit der Gründung der Digitalagentur 1997 (damals unter dem Namen xmachina – Advancing E-Health) ist der Experte für Digital Health und damit Ansprechpartner, wenn es um zukunftsweisende E-Health-Lösungen, medizinische Software, Healthcare-Apps und Gesundheitsmarketing geht. Seine besondere Expertise liegt in den Bereichen Beratung und Dienstleistungen rund um die Erstellung und Zertifizierung von Software als Medizinprodukt (SaMD).
Klaus Mueller: Das klingt ja fast so, als halten Sie die Pharmaindustrie für “Algorithmus-scheu”. Dem ist keinesfalls so. Für Verkaufs- und Finanzdaten werden Algorithmen in der Pharmaindustrie gefühlt schon seit Jahrzehnten genutzt – und zunehmend auch im Kernbereich der Medizin: Patientendaten, Krankheitsmuster und die Weiterentwicklung der Forschung sind nur einige Einsatzgebiete. Ich wüsste nicht, warum das im Marketing anders sein sollte. Gerade in diesem Bereich gibt es große spezialisierte Dienstleister, die dabei unterstützen.
Health Relations:Damit Fachkreisinformationen nicht an Patienten gelangen, müssen diese in geschlossenen Bereichen angeboten werden. Mit Hilfe des automatisierten Marketings wird eine Werbebotschaft nur dann ausgespielt, wenn die Daten den User eindeutig als Mediziner verifizieren. Ist ein Ende der geschlossenen Ärzteportale in Sicht?Klaus Mueller: Es ist im Heilmittelwerbegesetzt (HWG) recht klar geregelt, welche Informationen für “Nicht-Mediziner” kommuniziert werden dürfen. Ich sehe nicht, dass sich da in näherer Zukunft was ändert. Es gibt drei Qualitätskriterien für Fachinformationen. Erstens geht es um die eigentliche redaktionelle Qualität des Inhalts. Zweitens um die Aufbereitung. Hier zeigt sich, wie einfach es für den Arzt ist, die Informationen zu konsumieren. Und drittens um die Auffindbarkeit und Vermarktung der Inhalte. Hier ist Google und SEO ein wichtiges, aber nicht das einzige Instrument. Bei Fachkreisinformationen muss man sich dann verstärkt alternativer Methoden bedienen.
Health Relations:Chatbots sind derzeitig in aller Munde. Dabei kommunizieren selbständig laufende Programme mit der Zielgruppe. Welche Anwendungsmöglichkeiten sehen Sie in naher Zukunft im Pharma-Marketing?Klaus Mueller: Die ersten Beispiele aus dem Gesundheitswesen gibt es ja bereits – in der englischsprachigen Welt etwa
Babylon Health oder
Your.MD. Und das wird schnell mehr. Im Hintergrund arbeitende Chatbots sind ja nichts weiter als strukturierte Entscheidungsbäume, die den Anwender durch einen Prozess führen sollen. Ich kann mir dafür viele Szenarien vorstellen, aktuell sehe ich aber gerade den Sonderfall Chatbot eher im Bereich der Patientenkommunikation als bei der Fachkreiskommunikation. Ärzte sind es gewohnt, bei Fragen zeitnah von einem Gesprächspartner aus Fleisch und Blut “bedient” zu werden.
Ärzte sind es gewohnt, bei Fragen zeitnah von einem Gesprächspartner aus Fleisch und Blut “bedient” zu werden. Neben dem Pharma-Marketing werden Chatbots eine große Rolle im Bereich des sogenannten Patient Engagement spielen und zur Erhöhung der Adhärenz in der Therapie beitragen.
Health Relations:Wie bereits angeklungen, müssen Pharmaunternehmen den neuen Technologien vertrauen. Was sollten Marketing-Verantwortliche bei der Wahl eines professionellen Dienstleisters beachten?Klaus Mueller: Hier kommt es darauf an, dass der Dienstleister neben der Kommunikation auch in Technologie denkt. Das Thema muss in der DNA des Dienstleisters verankert sein und darf nicht nur eingekauft werden. Um das richtig beurteilen zu können, muss der Marketingverantwortliche am besten interne Expertise dazu holen oder, noch besser, im eigenen Team aufbauen.
Health Relations:Marketing-Automatisierung lässt sich sowohl in der Patienten- als auch in der Ärztekommunikation einsetzen. Was sind die wesentlichen Unterschiede?Klaus Mueller: Marketing Automation nutzt die vorhandenen Daten zur Optimierung der Kundenansprache. Bei der Ärztekommunikation liegen bereits viele Daten in den Unternehmen vor. So können die Stammdaten des CRM-Systems sowohl mit individuellen Daten angereichert werden, die zum Beispiel der Außendienstler vor Ort erfasst hat, als auch durch externe Daten. Das können Verordnungszahlen sein, aber auch Aktivitäten in Netzwerken wie Xing, LinkedIn oder Coliquio.
Die Patientenseite ist den Pharmaunternehmen dagegen oft noch weitgehend unbekannt. Zudem setzt das Heilmittelwerbegesetz hier durchaus enge Grenzen, was die individuelle Kommunikation mit Patienten betrifft. Viele Pharmaunternehmen entwickeln zur Zeit aber Multichannel-Konzepte, in denen es um generische Kommunikation geht, etwa zum Thema Impfen. Hier gibt es viele interessante Einsatzgebiete.
Health Relations:Welche Rolle spielt der Datenschutz bei der Automatisierung von Marketingprozessen? Wie lassen sich schutzbedürftige Patienteninformationen trotzdem für das Marketing nutzen?Klaus Mueller: Da gibt es verschiedene Wege. Auch eine anonymisierte Auswertung von medizinischen Datensammlungen kann in vielerlei Hinsicht helfen und auch für das Marketing nützlich sein, weil die Effizienz von medizinischen Interventionen so gesteigert werden kann. Reicht das nicht und sind individuelle Daten erforderlich, dann gibt es noch den “Datentreuhänder”. Wir betreiben z.B. für einen internationalen Konzern einen Server für die Betreuung von Patienten mit Multipler Sklerose. Wir stellen sicher, dass die Patienten die für sie relevanten Informationen erhalten. Das Pharmaunternehmen zahlt den Betrieb der Plattform und unterstützt so die Adhärenz, hat aber keinen Zugriff auf die Daten. Das ist eine sowohl rechtlich als auch ethisch saubere Lösung.
Health Relations: Wie sehen Sie die Automatisierungsbemühungen der deutschen Pharmaindustrie im internationalen Vergleich?Klaus Mueller: Im Vergleich zu den USA stehen wir erst am Anfang – das hat aber allein mit den unterschiedlichen rechtlichen Rahmenbedingungen zu tun. An die haben sich alle zu halten. Punkt. Umgekehrt hat gutes Marketing für mich wenig mit automatisch oder nicht automatisch zu tun. Wir haben in den letzten Jahren viele Kundenprojekte umgesetzt, und ich hatte nie das Gefühl, dass uns hier zu enge Grenzen gesetzt sind.
Health Relations: Bei dem Ausrollen globaler Marketing-Kampagnen stellen länderspezifische Regularien für Pharmaunternehmen eine große Herausforderung dar. Was kann das datenbasierte Marketing hier leisten?Klaus Mueller: Bei der Internationalisierung liegt der Teufel mitunter im Detail, und das datenbasierte Marketing ist eher Teil des Problems als der Lösung. Die Business-IT pocht aus guten Gründen auf standardisierte Abläufe, die Mitarbeiter vor Ort brauchen aber Lösungen, die an die lokale Gesetzeslage und an gelernte Arbeitsabläufe angepasst sind.
Natürlich gibt es dann die Möglichkeit, die Standardsoftware entsprechend anzupassen. Da die Anforderungen in den einzelnen Märkten aber manchmal auch diametral verschieden sind, kommt das nicht wirklich infrage. Die Lösung sieht dann oft so aus, dass wir ein Stück Individualsoftware schreiben, die für eine länderspezifische Ausgabe der Daten sorgt.
Health Relations: Für Ihre Kunden haben Sie bereits eine Reihe von Automatisierungsprojekten realisiert. Welches sticht besonders hervor und warum?Klaus Mueller: Leider kann ich nicht über konkrete Kunden und Projekte sprechen. Die Pharmakonzerne sind meist international aufgestellt und müssen daher sowohl die lokalen Regularien als auch die globalen Corporate-Vorgaben erfüllen. Das zusammenzubringen finde ich persönlich am spannendsten.
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