Michael Bollessen, BERLIN CHEMIE: „Ärzte nehmen virtuelle Angebote gut an“
Michael Bollessen:2020 war ein Jahr, das uns gezwungen hat, Vertrautes und Gewohntes infrage zu stellen und auch neu und anders zu denken. Wir müssen damit leben, dass auf dem Veranstaltungssektor das direkte und persönliche Zusammentreffen von Menschen auf absehbare Zeit nicht möglich ist. Die BERLIN-CHEMIE ist aber ein agiles Unternehmen, wir können uns schnell auf neue Situationen einstellen, andere Wege finden, Menschen zusammenzubringen. Und da sind wir insbesondere im Bereich der digitalen Fortbildungen sehr aktiv.
Health Relations: Wie haben Sie es geschafft, erfolgreiche Präsenzveranstaltungen ins Digitale zu transferieren?Michael Bollessen: Das ist genau der springende Punkt. Ich halte es für falsch, wenn man über Jahre
eine bestimmte Fortbildung, die auf Präsenz ausgerichtet ist, einfach digital durchführt. Das ist
vielleicht ein interessantes Experiment, wird aber in den wenigsten Fällen funktionieren. Im
Gegenteil: Wenn man so an die Konzeption herangeht, wird man maximal vielleicht kurzfristig Erfolg
haben. Langfristig funktionieren diese Konzepte nicht, davon bin ich überzeugt! Man muss
physische wie digitale Fortbildungen vielmehr als eigenständige Formate begreifen und konzipieren.
Das geht schon damit los, dass man digitale Formate nicht als "Lückenbüßer" betrachtet, mit denen
man die Corona-Krise überbrückt, bis Präsenzveranstaltungen wieder möglich sind.
Health Relations: Was macht denn eine gelungene digitale Fortbildung aus?Michael Bollessen: Das Wichtigste ist auch hier der Nutzen. Das sind zum Beispiel wissenschaftliche Informationen zu einem internationalen Kongress, die gut zusammengefasst und präsentiert sind. Allerdings muss das digitale Setting stimmen. Hier bieten digitale Techniken uns fantastische Möglichkeiten. Kann ein Teilnehmer über ein digitales Format mit dem "Board" über die wissenschaftlichen Ergebnisse diskutieren, ist dies perfekt. Auch Praxisrelevanz ist so ein Nutzen: Bietet eine Veranstaltung einem Teilnehmer hier Informationen, dann wird er ganz sicher auch an digitalen Fortbildungen teilnehmen. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, kann es auch gelingen, bestehende Formate digital zu transformieren.
Health Relations: Was sagen Sie zu kritischen Stimmen, die bei digitalen Veranstaltungen vor allem mit dem Finger auf eingefrorene Gestalten, zeitverzögerte Präsentationen und Teilnehmer, die plötzlich rausfliegen, zeigen? Wird einem da nicht die Lust auf digitales Invest verhagelt?Michael Bollessen:Ganz ehrlich? Ich halte das für vorgeschoben! Sicher waren die ersten Veranstaltungen noch etwas holprig. Man muss auch immer bedenken, dass sich nicht jeder Teilnehmer im digitalen Raum wohlfühlt oder immer die optimalen technischen Voraussetzungen hat. Aber das sind meiner Meinung nach Scheinargumente. Ich halte es allerdings für einen Fehler zu glauben, eine digitale Veranstaltung brauche weniger Vorbereitung und Planung oder sei sogar kostengünstiger. Im Gegenteil: Sie muss professionell vorbereitet sein, das heißt auf den Punkt in Konzept und Format. Zeitumfang und Zeitpunkt müssen passen. Die Formate müssen insgesamt kürzer sein – nicht vergleichbar mit einer Präsenzveranstaltung. Über die Technik mache ich mir da eher weniger Gedanken.
Health Relations: Erreichen Sie durch kürzere Online-Formate die Ärzte auch auf einer anderen Ebene? Wie geht das?Michael Bollessen:Wir fragen uns, was den Arzt wirklich interessiert. Das kann auch eine emotionale Fragestellung sein. Viele Themen werden in der Diabetologie kontrovers diskutiert. Also haben wir uns gesagt: Warum nicht ein Format anbieten, das sich immer einer dieser Kontroversen widmet und an einem Mittwochabend platzieren, wenn in der Praxis Ruhe eingekehrt ist? Mit Dia:cussion haben wir jetzt eine interaktive Plattform geschaffen, auf der aktuelle "heiße Eisen" diskutiert werden. Das neue, interaktive Veranstaltungsformat ist ein Livestream, indem jeweils ein Vertreter aus dem Pro- und dem Contra-Lager aufeinandertrifft und seine Argumente vorbringt. Unter professioneller Moderation erleben die Teilnehmer einen kurzen Schlagabtausch mit anschließender Diskussion, an dem sie per Chat teilnehmen können. Vor und nach der Diskussion wird abgestimmt: Hat sich das Meinungsbild geändert? Das Ganze in kurzen Einheiten von nicht mehr als 60 Minuten. Aktuell und zeitlich kurz, unterhaltsam und informativ – das sind die Zutaten für diese neue digitale Fortbildungsreihe, die einmal im Monat stattfindet.
Health Relations: Gibt es weitere Neuerungen, neue Inhalte o.ä., die nun zur Verfügung stehen?Michael Bollessen:Wir sind immer offen für neue Ansätze: Teilnehmer sind es ja gewohnt, dass Veranstaltungen sehr stark gesteuert werden, durch Moderatoren, durch ein festes Programm und Vorträge. Hier wollen wir mal einen neuen Weg gehen: weg mit dem Korsett und schauen, was für die Teilnehmer herauskommt, wenn sie selbst die Regisseure sind. Hier haben wir uns von den sogenannten "BarCamps" der IT-Branche inspirieren lassen. Das Wort "Bar" steht für "Variable" und enorm wichtig. Wir haben in dieser Situation extrem schnell reagiert und ab Oktober 2020 bundesweit die Möglichkeit geschaffen, per Videofortbildung, Know-how und Insights zum Thema "Diabetes-Schulung per Video – Möglichkeiten und Grenzen" zu vermitteln. Die Schulungen wurden von zwei Diabetologen und einer Diabetesberaterin durchgeführt, die allen Teilnehmern für Fragen im Experten-Chat zur Verfügung standen. Auch dieses Angebot wurde sehr gut angenommen.
Health Relations: Herr Bollessen, die BERLIN-CHEMIE AG bietet Diabetologen seit Jahren ein umfangreiches Fortbildungsangebot in Form einer Online- Akademie zu verschiedenen Themen der Diabetologie. Hat Ihnen Corona ein Strich durch die Rechnung gemacht?"Aktuelle Umfrageergebnisse zeigen, dass Ärzte virtuelle Angebote gut annehmen und die Nachfrage steigt."Health Relations: Können Sie uns Beispiele für Erfolgreiche digitale Veranstaltungen nennen?Michael Bollessen: Gute Erfahrungen haben wir zum Beispiel mit unserer Veranstaltung DiaLetT gemacht. Im Juni 2020 wurde vom ADA Kongress (American Diabetes Association) von einer Gruppe von "Kundschaftern", die aus Diabetologen bestand, erstmals digital berichtet. Diese Kundschafter haben die Highlights des ADA in 15- bis 20-minütigen Präsentationen für ihre Kollegen zusammengefasst und standen anschließend live für Fragen in zwei Studios in München und Hannover zur Verfügung. Über 200 Diabetologen haben an dem digitalen Format teilgenommen, das es schon seit vielen Jahren als Face to Face-Veranstaltung gibt. Hier hat die Umsetzung in ein digitales Format funktioniert, weil der Nutzen, nämlich rasch wissenschaftliche Informationen vom Amerikanischen Diabetologen Kongress präzise und auf den Punkt zusammengefasst für die Praxis zu erhalten, klar erkennbar ist. Aktuelle Umfrageergebnisse zeigen, dass Ärzte virtuelle Angebote gut annehmen und die Nachfrage steigt. Health Relations: Wie kann man sich als Unternehmen von den Mitbewerbern und einem insgesamt wachsenden Angebot abheben?Michael Bollessen:Indem man die Formate permanent anpasst und kreativ weiterentwickelt. Auch das ist ein großer Vorteil digitaler Formate: die Flexibilität in der Umsetzung. Für uns heißt das, dass wir 2021 das Format DiaLecT wegen Corona höchstwahrscheinlich wieder digital fahren. Allerdings werden wir das Format weiter optimieren. Wichtig ist, auch in einem digitalen Setting Interaktion möglich zu machen und den sozialen Aspekt nicht zu vernachlässigen. So haben wir die Idee, im kommenden Jahr den ADA-Wissenstransfer über mehrere regionale Studios, in denen sich kleinere Gruppen von Diabetologen treffen, persönlicher gestalten. Das geht – auch digital! Health Relations: Aber der persönliche Austausch, der fehlt doch! Kann eine digitale Begegnung das überhaupt leisten? Sind die Leute nicht genervt von den vielen digitalen Meetings, die jetzt stattfinden?Michael Bollessen:Sicher. Die Gefahr besteht natürlich. Umso wichtiger ist es, den Nutzen für den Arzt herauszustellen! Niemand hat Lust, sich nach einem anstrengenden Tag am Rechner in der Praxis oder wo auch immer einen 30-minütigen Vortrag nach dem anderen anzuhören. Dass es auch anders gehen kann, haben wir mit unserem Konzept diaXperts gezeigt. Es handelt sich um eine feste Gruppe von Diabetologen, mit denen wir regelmäßig face-to-Face-Veranstaltungen durchführen. Diese Veranstaltungen leben von Diskussion und Austausch. Da werden schon mal kontroverse Diskussionen geführt oder in kreativen Workshops Ideen mit den Kollegen ausgetauscht. diaXperts lebt von Interaktion. Bei der digitalen Transformation wollten wir den Kern dieses Konzepts unbedingt beibehalten. Was haben wir gemacht? Wir haben uns an vier aufeinanderfolgenden Abenden während des EASD (Jahreskongress der Europäischen Gesellschaft für Diabetologie) virtuell getroffen. Jeder Abend war thematisch in zwei Bereiche aufgeteilt: Im ersten Teil berichteten Diabetologen für ihre Kollegen von den Highlights des jeweiligen Kongresstages. Im zweiten Teil nahmen die Teilnehmer an sechs bis acht parallelen Workshops teil. Hier hatten sie Gelegenheit, sich zu aktuellen digitalen Themen auszutauschen und zu diskutieren. Die Ergebnisse wurden zusammengefasst und an die Teilnehmer zurückgespielt. Das wurde sehr gut angenommen. Health Relations: Das klingt nach viel zeitintensiver Vorbereitung im Vorfeld. Aber ist es nicht gerade auch ein Vorteil digitaler Formate, dass sie mit weniger Aufwand realisiert werden können?Michael Bollessen:Ja, man kann beispielsweise sehr viel schneller als es mit Präsenzveranstaltungen möglich ist, auf aktuelle Bedürfnisse eingehen und so weiteren Nutzen für die Praxis generieren.