Seit Juli 2024 ist Niko Andre als neuer Head Oncology bei AstraZeneca Deutschland tätig. Selbst aus der klinischen Forschung und Versorgung kommend, plädiert er für mehr Forschungsbegeisterung in Deutschland. Im Interview erklärt er, wie es um die klinische Forschung in Deutschland aktuell bestellt ist – und was es braucht, um den Enthusiasmus dafür neu zu entfachen.

Health Relations: Herr Dr. Andre, wie steht es um die Forschungsbegeisterung in Deutschland?

Niko Andre: Einerseits hat Deutschland traditionell eine sehr gute onkologische und hämatologische Studienkultur. Das sollten wir anerkennen, denn hier sind wir im europäischen und globalen Vergleich gut aufgestellt. Andererseits sehen wir den letzten zehn bis 20 Jahren eine problematische Über-Bürokratisierung der Studienvorgänge. Regularien, Gesetzgebung, Datenschutz, das föderale System mit vielen Einzelverträgen: All das reduziert die Geschwindigkeit der Studiendurchführung. Damit verlieren wir an Konkurrenzfähigkeit. Das gilt für Deutschland, aber auch ganz Europa. 2013 lagen wir bei 22 Prozent europäischer Teilnahme an Zulassungsstudien, 2023 nur noch bei zwölf Prozent.

„Europa hat bereits den Anschluss in Feldern wie der Hochtechnologie oder KI verloren. Das darf uns nicht auch in der Forschung passieren.“

Health Relations: Warum ist es überhaupt so wichtig, die Forschung hierzulande voranzubringen?

Niko Andre: Forschung ermöglicht medizinischen Fortschritt und den Zugang dazu. Gerade Zulassungsstudien sind wichtiges Vehikel für die klinische Praxis und um die Anwendung von Medikamenten zu ermöglichen. Europa hat bereits den Anschluss in Feldern wie der Hochtechnologie oder KI verloren. Das darf uns nicht auch in der Forschung passieren. Wir müssen die pharmazeutische Forschung klar positionieren als Schlüsselindustrie mit guter Infrastruktur. Die Problematik ist so klar, dass sich der Wille zum Handeln von alleine ergibt. Die Motivation ist auf allen Seiten da.

Health Relations: Wer sind denn „alle Seiten“ – auf welche Akteure kommt es an?

Niko Andre: Wir sind dazu im Kontakt mit drei großen Interessengruppen. Da ist erstens das Healthcare Delivery System, also Behandlungszentren, Kliniken, der Ärzteschaft, Study Nurses oder Studienexpertinnen und -experten. Zweitens die Patientinnen und Patienten. Und drittens sind wir im Austausch mit Verantwortlichen für Themen wie Regulatorik und Governance, also mit dem Gesetzgeber. 

„Der wichtigste Hebel ist die Erkenntnis, dass alle nur gewinnen können.“

Health Relations: Was ist der wichtigste Hebel, um die Begeisterung für Forschung in diesen Interessengruppen zu entfachen?

Niko Andre: Der wichtigste Hebel ist die Erkenntnis, dass alle nur gewinnen können. Forschung bringt Verbesserung auf allen Ebenen. Sie bringt Infrastruktur, Investitionen, eine langfristige Strukturgenerierung. Deutschland gewinnt durch die Verbesserung der intellektuellen Exzellenz und akademischen Qualität, durch eine höhere Geschwindigkeit des Lernens und einer Verbesserung der klinischen Versorgung. Die Patientinnen und Patienten profitiert von der besseren Verfügbarkeit und dem direkten Zugriff auf Forschung. Das heißt etwa in der Onkologie, Zugang zu sonst nicht verfügbaren Therapien zu haben. Und Forschung verbessert die Gesundheit der Bevölkerung, indem sie die Standards in der Versorgung anhebt. Wir entwickeln ja nicht nur Medikamente, sondern auch Behandlungsstrategien. Das Argument „Forschung kostet zu viel“ ist nicht valide. Der Mehrwert, den wir durch die Anhebung der Bevölkerungsgesundheit generieren, ist ein extrem hohes Gut.

Health Relations: Was tun Sie kommunikativ dafür?  

Niko Andre: Wir sprechen mit allen. Wir verfolgen klar strukturierte Policy-Programme, in denen wir Angebote und Forderungen klar formulieren – nach Rahmenbedingungen, Vereinfachung, Infrastruktur, Ressourcen. Außerdem sind wir sehr eng und wissenschaftsbasiert verbunden mit akademischen Führungsgremien in kooperativen Gruppen, etwa nationalen Tumorzentren. Wir sind uns unserer Verantwortung bewusst und nehmen sie über Präsenz und Investitionen wahr.

Health Relations: Fehlt es zurzeit an Vertrauen in die Langfristigkeit der Forschung?

Niko Andre: Was in Deutschland fehlt, ist die Bereitschaft, die Langfristigkeit durch Ressourcen zu incentivieren. Wir als AstraZeneca sind über die Bereitstellung der nötigen Infrastruktur hochgradig investiert sowie über ein Portfolio, das ein hohes Engagement an der klinischen Forschung ermöglicht. Die Kosten für Forschung und Entwicklung sind exponentiell gestiegen. Weltweit investieren wir aktuell pro Quartal rund drei Milliarden USD in Forschung und Entwicklung. In Deutschland haben wir derzeit über 200 aktive klinische Studien. Das Risiko tragen wir alleine. Wir brauchen Rahmenbedingungen, die uns erlauben, den Wert der Innovation per ROI sicherzustellen und langfristig zu planen.

Health Relations: Erklärtes Ziel von AstraZeneca ist es, Krebs als Todesursache zu eliminieren. Wie lässt sich diese Vision kommunizieren, ohne unrealistische Erwartungen zu wecken?

Niko Andre: Bis in die Neunzigerjahre war alle paar Jahre die Schlagzeile zu lesen, Krebs sei bald heilbar. Das hat der Glaubwürdigkeit dieser Aussage sehr geschadet. Seit den frühen 2000ern aber ist ein echter Wendepunkt erreicht, vor allem durch die Einführung biologischer Therapeutika und mit epochalen Verbesserungen in den genomischen Wissenschaftsmöglichkeiten. Heute können wir eine Vielzahl an Tumorerkrankungen so behandeln, dass sie nicht die Todesursache sein werden.

Gleichzeitig gilt: Wir können nicht jeden Krebs permanent und immer heilen. Bestimmende Faktoren sind etwa die breite Verfügbarkeit hochqualitativer und früher Diagnostik, eine optimale Therapieentscheidung und -durchführung. De facto aber haben 80 Prozent der Patientinnen und Patienten weltweit nicht mal Zugriff auf eine Basis-Versorgung. Hier stoßen wir also auch an Fragen der Gleichheit und Gerechtigkeit. Medizinisch aber sind wir sehr nah an der Zielsetzung, Krebs als Todesursache zu eliminieren. Im Bereich Brustkrebs etwa hat sich die Sterblichkeit massiv reduziert, bei anderen Krebsarten nicht so sehr. Jetzt gilt es, den Erkenntnisgewinn fortzusetzen und weiter den Weg des Fortschritts zu gehen.

„Ein großes Ziel muss sein, die Teilnahme an klinischen Studien proaktiv zu ermöglichen.“

Health Relations: Wenn wir zehn Jahre nach vorne blicken: Was wünschen Sie sich dann in Sachen Forschungsbegeisterung?

Niko Andre: Ein großes Ziel muss sein, die Teilnahme an klinischen Studien proaktiv zu ermöglichen. Dafür braucht es eine zentrale, systemische Verfügbarkeit der relevanten Informationen. Ärztinnen und Ärzte sowie Patientinnen und Patienten müssen schnell herausfinden können, welche Möglichkeiten es gibt, wo was wie stattfindet etc. Das ist eine administrative, politische, aber auch Datenschutz- und IT-Aufgabe. Zudem muss Forschung machbar bleiben. Pharma tätigt Risikoinvestitionen, das gilt es anzuerkennen. Und wir brauchen eine gesellschaftliche Wertschätzung der klinischen Forschung. Deutschland ist traditionell sehr gut aufgestellt. Genau diesen wertschätzenden Blick müssen wir permanent weiter fördern.