Recherche, Gespräche, Zweitmeinung: So treffen Patienten Entscheidungen
Viele Menschen in Deutschland sind nicht gesundheitskompetent, obwohl genügend Gesundheitsinformationen vorliegen. Darüber diskutierten Dr. Silja Samerski und Prof. Dr. phil. Christine Holmberg bei einer Ceres-Vorlesung an der Universität zu Köln.
Eine Patientin hat Schmerzen in der Hand. Die Finger schlafen in der Nacht ein, manchmal tun Daumen und Mittelfinger weh. Die Patientin geht zu ihrem Hausarzt, der erfahren ist, und die richtige Diagnose stellt. Ein Nerv im Handgelenksbereich ist eingeklemmt, bei dem Leiden handelt es sich um das sogenannte Karpaltunnelsyndrom. Der Hausarzt verweist an einen Orthopäden, der die gleiche Diagnose stellt, und zu einer Operation rät. Die Patientin ist skeptisch. Sie informiert sich selbst: Online, bei verschiedenen Gesundheitsportalen, die sie als vertrauenswürdig einstuft. Außerdem lässt sie sich von der Deutschen Gesellschaft für Handchirurgie, Neurochirurgie, Neurologie und Orthopädie die Leitlinie für das Karpaltunnelsyndrom zuschicken. Hier liest sie von Patientenstudien und unter welchen Voraussetzungen weitere Behandlungsmöglichkeiten sinnvoll sind, wie etwa eine Handgelenksschiene oder die Einnahme von Kortisontabletten. Sie vereinbart einen Termin mit einem anderen Orthopäden, um sich eine Zweitmeinung einzuholen. Auch dieser Orthopäde rät zur Operation. Nach Rücksprache mit ihrem Ehemann und einer guten Freundin, die als Krankenschwester in einem Universitätsklinikum arbeitet, entscheidet sich die Patientin für den operativen Eingriff. Im Netz recherchiert sie nach einem Klinikum, bei dem dieser Eingriff überdurchschnittlich häufig vorgenommen wird und vereinbart einen OP-Termin.Die oben beschriebene Patientin würde zu den sieben Prozent der Patienten in Deutschland gehören, die über eine sehr gute Gesundheitskompetenz verfügen. Sie kann Gesundheitsinformationen finden, verstehen, sie mit anderen diskutieren und am Ende eine individuelle Entscheidung treffen. Damit ist sie eine Ausnahme. „54,3 Prozent der deutschen Bevölkerung weist eine inadäquate bis problematische Gesundheitskompetenz auf“, zitierte Prof. Dr. Samerski aus dem Ergebnisbericht: Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland. Wenn Menschen sich in Deutschland also nicht so umfassend informieren wie die obige Musterpatientin, wie gehen sie dann vor? Hierzu gab Prof. Dr. phil. Christine Holmberg einen spannenden Einblick. Sie zitierte aus einer eigenen Untersuchung, die sie mit Kollegen in den USA mit mehr als 1.000 Frauen durchgeführt hat. Ziel der Studie war es, herauszufinden, unter welchen Voraussetzungen Frauen Raloxifen oder ein anderes „Anti-Östrogen“ einnehmen, um Brustkrebs vorzubeugen. „Das wichtigste Entscheidungskriterium ist die Arztempfehlung“, sagte Holmberg. „Wenn der Arzt ein Medikament empfohlen hat, wird es wahrscheinlicher eingenommen.“ Zudem sei es wichtig, mit welcher Einstellung Frauen in ein Arztgespräch gehen. Wenn Bekannte das Medikament bereits eingenommen haben und Positives berichten, dann sind die Probandinnen hiervon beeinflusst. Welche Learnings ergeben sich aus den beiden Vorträgen? Eine Mehrheit der Menschen in Deutschland ist nicht gesundheitskompetent, obwohl genug Gesundheitsinfos vorliegen. Damit Bürger sich besser informiert fühlen, müssen Gesundheitsinfos im Netz noch einfacher und verständlicher dargestellt werden. Außerdem können publikumswirksame Kampagnen, wie zum Beispiel Pink Ribbon, ein Bewusstsein schaffen. Gerade weil der Arzt für den Patienten so wichtig ist, sollte er weiterhin eine zentrale Rolle bei jeder Kommunikationsstrategie spielen.Jeder Zweite weist eine problematische Gesundheits-kompetenz auf
Dr. Silja Samerski hat Biologie und Philosophie studiert und ist Postdoktorandin am DFG-Graduiertenkolleg "Selbstbildung - Praktiken der Subjektivierung", an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.Prof. Dr. phil. MA Christine Holmberg ist Professorin für Sozialmedizin und Epidemiologie an der Medizinischen Hochschule Brandenburg Theodor Fontane.