Kandidatencheck per Webcam? Wer sich mit dem Thema etwas vertraut macht und die richtigen Tools benutzt, für den können virtuelle Bewerbungsrunden eine realistische Alternative sein – in Corona-Zeiten und darüber hinaus.
Bei internationalen Konzernen sind Vorstellungsgespräche per Videochat für Bewerber aus dem Ausland längst keine Seltenheit mehr. Auch innerhalb Deutschlands finden sie immer häufiger statt, insbesondere für eine erste
Vorauswahl. Nun, angesichts von Corona, rücken sie verstärkt in den Fokus, damit nicht zu viele Stellen auf unbestimmte Zeit unbesetzt bleiben. Denn auf längere Fahrten, womöglich noch in öffentlichen Verkehrsmitteln, werden sich viele Menschen wohl für eine ganze Weile nicht sehr gern begeben.
Sana Kliniken und Schön Klinik: digitale Vorstellungsgespräche
Auch einige Krankenhäuser nutzen den Kandidatencheck 4.0. schon. Dazu gehören beispielsweise die
Sana Kliniken. „Tatsächlich sind Online-Vorstellungsgespräche bei uns bereits seit längerem durchaus ein Mittel der Wahl – vor allem bei ausländischen Bewerbern aus der Pflege aber auch der Medizin. Für Führungskräfte in der Verwaltung führen wir solche virtuellen Interviews auch im Inland schon häufiger durch. Bei Ärzten, die sich in Deutschland befinden, überwiegt derzeit aber noch ganz klar das persönliche Gespräch. Aber auch das kann sich, angestoßen durch die Corona-Pandemie, dauerhaft ändern", so Konzernsprecher Patrick Engelke. Für die
Schön Klinik SE ist die Personalauswahl per Mausklick ebenfalls bereits Thema. „Die Möglichkeit zu virtuellen Bewerbungsgesprächen gibt es schon in einigen Standorten, beziehungsweise sie wird demnächst umgesetzt. Die Technik wurde schon vor Corona dafür vorbereitet", sagt Pressereferentin Astrid Reining. Für viele Personaler heißt das aber auch: Sie betreten Neuland.
Experten-Tipp: Psychologe Prof. Dr. Klaus Melchers, Universität Ulm
Prof. Dr. Klaus Melchers © Universität Ulm
Vorbereitung
„Inhaltlich sollten sich Arbeitgeber auf Online-Vorstellungsgespräche genauso vorbereiten wie auf persönliche Face-to-Face-Termine“, erklärt Prof. Dr. Klaus Melchers, Leiter der Abteilung Arbeits- und Organisationspsychologie der Universität Ulm. Denn auch auf digitalem Weg bestimmt der Recruiter den Verlauf des Interviews und muss ein professionelles Niveau aufrechterhalten.
An wichtigsten dafür sei es, die richtigen,
inhaltlich relevanten Punkte abzuklopfen. Dazu gehören zum Beispiel Fragen, ob ein Arzt bestimmte Standardabläufe kennt oder wie er in manchen Situationen reagieren würde. „Aus Unternehmersicht ist es entscheidend, handfeste Informationen über einschlägige Erfahrungen und Qualifikationen zu bekommen. Und dafür spielt es weniger eine Rolle, ob ich jemanden persönlich gegenübersitze oder per Videokonferenz“, so Prof. Klaus Melchers.
Ablauf
Der Ablauf ist allerdings schon ein wenig anders. „Normalerweise beginnt ein Präsenztermin vor Ort mit etwas
Smalltalk, um erst einmal in Kontakt zu kommen. Das fällt online als Auftakt in der Regel weg. Meiner Erfahrung nach fangen Videokonferenzen stattdessen üblicherweise so an, dass beiden Seiten zunächst schauen,
ob die Technik funktioniert“, erläutert Prof. Klaus Melchers. Das zu benutzende Programm wird übrigens vom Unternehmen vorgegeben.
Warm-up
Nachdem dies geklärt ist, kann man trotzdem ein Warm-up machen. Es gibt zwar aus eignungsdiagnostischer Sicht die Forderung, Vorstellungsgespräche möglichst einheitlich durchzuführen und deswegen darauf zu verzichten. Denn das kann den Gesamteindruck, den sich ein Personaler vom Kandidaten macht, beeinflussen, unabhängig von der eigentlichen Qualifikation. Prof. Klaus Melchers sieht dies allerdings weniger eng. „Aus meiner Sicht spricht wenig gegen eine
kurze Anwärmphase, damit Ihr Gesprächspartner, vor allem wenn dieser nervös ist, sich an die Situation gewöhnen kann.“ Zumal auch der Händedruck und die Tasse Kaffee fehlen. Hinzu kommt: Gerade in der aktuellen Lage sind ein paar Worte zu Corona und der allgemeinen Situation nahezu unumgänglich.
Bewertung
Außerdem sollten Personaler bei ihrer Bewertung eins berücksichtigen: „Beide Seiten kommen rein virtuell nicht so gut miteinander in Kontakt. Man ist online einfach weniger präsent“, sagt Prof. Klaus Melchers. Ein Hauptgrund dafür: „
Üblicherweise schauen Sie Ihrem Gegenüber über die Webcam nicht richtig in die Augen. Das verunsichert Bewerber und führt dazu, dass sie weniger qualifiziert wirken, obwohl das rein an den Umständen liegt“, erläutert der Psychologe und resümiert: „Wer ein paar Basics beachtet und vor allem geeignete
anwendungsbezogene Fragen stellt, kann auch auf digitalem Weg eine gute Personalauswahl treffen.“
Was die aktuellen Umstände betrifft, so plädiert der Psychologe für Nachsicht. „Störungen sind normalerweise ein absolutes No-Go. Viele Bewerber sind aber derzeit mit der ganzen Familie zu Hause. Wer mit kleinen Kindern oder einem Neugeborenen in einer Zwei-Zimmer-Wohnung lebt, kann absolute Ruhe nicht immer garantieren. Personaler sollten sich von solchen Nebensächlichkeiten aktuell nicht in ihrem Urteil beeinflussen lassen.“
Employer Branding
Zudem verschlankt die digitale Variante den Aufwand, spart Zeit wie Geld und schont die Umwelt. Darüber hinaus kann sich die
Klinik als moderner Arbeitgeber präsentieren.
Praktische Tipps zum virtuellen Vorstellungsgespräch
- Blick in die Kamera: Instinktiv schauen Menschen beim Videochat auf die Person im Monitor. Doch damit sieht diese wiederum nur die Augenlider des Gesprächspartners. Daher ist es empfehlenswert, möglichst oft in die Kamera zu blicken. Die Augen sollten sich auf Höhe der Webcam befinden.
- Dresscode: Beim virtuellen Recruiting gilt der Unternehmens-Dresscode – und zwar bis zu den Schuhen, wenn man wider Erwarten doch aufstehen muss. Zudem verleiht das dem Arbeitgeber auch zu Hause eine andere innere Haltung. Tipp: Ein weißes Hemd vor weißer Wand wirkt unvorteilhaft, optimal sind dunkle Farben.
- Lichtverhältnisse: Darüber hinaus ist auf eine vorteilhafte Ausleuchtung zu achten, als ideal gilt seitliches Tageslicht.
- Körpersprache: Ebenfalls ratsam: aufrechte Körperhaltung, bedächtige Bewegungen, Verzicht auf Gestik sowie eine langsame und deutliche Aussprache, da es zu Zeitverzögerungen bei der Übertragung kommen kann.
- Zweiter Monitor: Auch die andere Seite sieht nur den Bildausschnitt. Daher ist es möglich eine Kopie der Bewerbungsunterlagen oder Fragen als Gedächtnisstütze unauffällig neben sich zu legen – oder einen zweiten Monitor dafür zu nutzen.
- Smartphone aus: Des Weiteren gilt: alle anderen Programme schließen, Handy auf lautlos schalten, Taschentuch und ein Glas stilles Wasser bereitstellen.
Datenschutz beim Video-Vorstellungsgespräch
Bei der Wahl des Tools ist gegebenenfalls die Rechtsabteilung zu fragen. Denn gerade beim Recruiting sollten bestimmte
Datenschutzaspekte gewährleistet sein. Auf dem Markt gibt es verschiedene Tools, die speziell für Recruiting-Gespräche entwickelt wurden. Das Berliner Start-up
Viasto beispielsweise bietet aktuell zwei an: ein
zeitversetztes Video- und ein Live-Interview. Für die erste Option hinterlegt der Recruiter seine Fragen vorher schriftlich. Praktisch: Die Software liefert dafür sogar Vorschläge, die auf die jeweilige Stelle abgestimmt sind. Die Unternehmen können zudem ein Willkommensvideo für die Bewerber einstellen, in dem sie sich und die Klinik vorstellen. Die Antworten des Bewerbers werden dann in einem Video aufgezeichnet. Ein klarer Vorteil: Der Bewerbungsprozess ist damit für alle Kandidaten gleich, was den Vergleich leichter macht und die Entscheidung objektiviert.
Der Life-Dialog wiederum übernimmt im Vorfeld die Terminfindung. Bevor es losgeht, können die Unternehmensvertreter der Session vor dem Kandidaten beitreten und sich mit den Funktionalitäten vertraut machen. In beiden Fällen muss der Personaler nichts downloaden, er wählt sich lediglich per Link ein. Außerdem erfolgt jedes Mal automatisch ein technischer Check-up des internen oder externen Mikros, der Webcam und der Internetverbindung. Auch das Corporate Design wird eingebaut. Zudem ist es online möglich, Inhalte, beispielsweise Röntgenbilder oder Case Studies zu teilen, um fachliche Aspekte abzubilden. Und es lassen sich weitere Personalentscheider von verschiedenen Orten zuschalten.