Stefan Bauer, Lilly: „Es gibt Indizes für Glück oder Lebensqualität. Nicht für Gesundheit.“
Lilly Deutschland hat sich vor sechs Jahren das Ziel gesetzt, das menschlichste und kundenfreundlichste Unternehmen der Pharmabranche zu werden. Wie weit sind Sie auf diesem Weg gekommen?Stefan Bauer: Diese Vision haben wir 2014 entwickelt und das Ziel war und ist hoch. Wir sind nun seit sechs Jahren auf der Reise und in dieser Zeit hat sich sehr viel getan. Intern wurde viel intrinsische Motivation freigesetzt. Wir sehen ein hohes Maß an Zufriedenheit sowohl bei den Mitarbeitern als auch bei unseren Kunden. Und zudem haben wir unser für 2020 definiertes Geschäftsziel zwei Jahre früher als geplant erreicht. Es hat ein Befreiungsprozess stattgefunden, der sich auch in der Außenkommunikation bemerkbar macht. Kunden und Geschäftspartner spüren die Menschlichkeit, mit der wir intern agieren.
Health Relations: Das menschlichste und kundenfreundlichste Unternehmen, wie ist das genau definiert?Stefan Bauer: Es geht dabei weniger um konkrete Definitionen als vielmehr um das Verinnerlichen einer Haltung. Ich scheue mich davor, Menschlichkeit zu definieren. Die spürt man. In der Unternehmenskultur, im Umgang miteinander. Werde ich als Mitarbeiter in Entscheidungen, die mich betreffen, eingebunden? Oder werden mir Entscheidungen top-down mitgeteilt? Es gibt natürlich traditionelle Messinstrumente für Mitarbeiter- und Kundenzufriedenheit. Aber meiner Meinung nach müssen wir neue Kriterien entwickeln, die den Anforderungen des 21. Jahrhunderts entsprechen. Derzeit arbeiten wir immer noch mit den Kriterien, die aus dem 20. Jahrhundert stammen.
Health Relations: Zum Beispiel?
Stefan Bauer: Je kränker die Menschen sind, desto mehr Umsatz wird im Gesundheitswesen gemacht und desto höher steigt das Bruttosozialprodukt. Es gibt unzählige Messinstrumente für Krankheiten, aber wenige für Gesundheit. Gibt es etwas wie einen nationalen Gesundheitsindex? Es gibt Indizes für Glück oder Lebensqualität. Nicht für Gesundheit. Derzeit liegt der Fokus darauf, Menschen zu heilen, und weniger, sie gesund zu halten. Wie können wir unser Gesundheitswesen transformieren? Das ist die eigentliche Transformation, das ist das große Ziel. Hier möchten wir mit Gleichgesinnten neu denken.
Health Relations: Wesentliches Element Ihrer Transformationsstrategie ist die Zusammenarbeit auf „Augenhöhe“ mit dem Ziel, einen Paradigmenwechsel innerhalb des Unternehmens zu erreichen. Was heißt das genau?Stefan Bauer: Augenhöhe beschreibt eine Organisationskultur, die auf Wertschätzung, Eigenverantwortung und Selbstorganisation setzt. Ziel ist, ein Umfeld zu schaffen, in dem Veränderungen leicht adaptiert oder vorangetrieben werden können. Es gibt mehrere solcher „Augenhöhe-Unternehmen“. Sie sind gut vernetzt, besuchen sich gegenseitig, tauschen sich aus. Wir fallen da ein wenig heraus, was Branche und Größe unseres Unternehmens angeht. Meist sind „Augenhöhe“- Unternehmen kleiner, in der Pharmabranche sind wir eher ein Novum.
Health Relations: Herr Bauer, "Wir werden in einigen Monaten zurückblicken und merken, dass unsere Transformationsreise sich nicht nur in dieser Krise bewährt, sondern auch positiv ausgezahlt hat."Health Relations: Was sind die Meilensteine auf Ihrem Weg durch die Transformation? Stefan Bauer: Wir haben 2015 mit einer Transformations-Roadmap begonnen und Meilensteine definiert, von denen wir einen nach dem anderen umsetzten. Zum Beispiel: Wir hatten früher eine klassische Führungskräftekonferenz. Dann hat eine Gruppe von Querdenkern die inhaltliche Ausgestaltung übernommen. Jedes Jahr wurde die Konferenz transformativer gestaltet. Heute heißt sie Transformationskonferenz und entsprechend sind neben den Führungskräften auch Kollegen eingebunden, die Vorreiteraufgaben in Sachen Transformation übernehmen. Noch ein Meilenstein: Wir haben alle 800 Kolleginnen und Kollegen in den Transformationsprozess eingebunden, auf freiwilliger Basis. Das hat zu dem Durchbruch geführt, dass wir heute rund zwei Dutzend selbstorganisierter Teams haben. Die Menschen entscheiden eigenständig, an welchen Themen sie im Kontext der Strategie arbeiten möchten. Sie tun sich zusammen, beschließen selbst, ob und wann sie sich wieder auflösen. Das ist ein ganz wesentlicher Durchbruch. Und: Seit Januar 2020 sind wir die ersten in der pharmazeutischen Industrie mit einer zertifizierten Gemeinwohlbilanz. Über zwei Jahre haben rund 50 Kolleginnen und Kollegen zeitweise an diesem Thema gearbeitet. Ein großer Meilenstein! Health Relations: Das ist dann wohl agiles Arbeiten. Stefan Bauer: Genau. Die Mitarbeiter in diesen Teams merken, wo ein organisationales Vakuum existiert. Oft, bevor es das Management merkt. Sie entscheiden weitestgehend selbstständig, ob sie ein neues Thema angehen wollen und wie. Health Relations: Das verlangt Mut, diesen Schritt zu gehen. Stefan Bauer: Ja, Transformation verlangt Mut. Insbesondere für das Leadership Team und die Führungskräfte. Denn deren Führung verändert sich massiv, wenn klassische Hierarchien schwinden und die Teams immer agiler werden. Derzeit haben wir eine Kombination aus Selbstorganisation und hierarchischer Führung. Eine Hybridstruktur, wenn man so will. Das Ziel ist, dass wir uns noch weiter zu mehr Eigenverantwortung entwickeln. Health Relations: Nehmen Sie wahr, dass Kunden das agile Arbeiten, wie Sie es leben, als positiv empfinden? Stefan Bauer: Viele unserer Kunden tauschen sich gerne mit Lilly-Kolleginnen und Kollegen aus. Sowohl in Sachen Fachkompetenz als auch aus persönlichen Gründen. Es ist der Umgang miteinander. Hören wir uns gegenseitig besser zu, gehen wir achtsam miteinander um, unterstützen wir uns gegenseitig? Wir alle haben das Ziel, Gesundheit zu fördern und Menschen zu heilen. Wie schaffen wir das gemeinsam? Das ist eine Frage, die unsere Kunden und uns verbindet. Health Relations: Die innere Haltung, die Lilly einnimmt, wird also als Teil der Unternehmens-DNA nach außen getragen? Stefan Bauer: Genau. Es ist die Haltung eines jeden, die bestimmt, wie wir miteinander umgehen. Da muss man nicht differenzieren, ob das intern oder extern ist. Health Relations: Die „Augenhöhe“-Kultur hat 2017 bereits eine erste Krise, einen Personalabbau, begleitet. Jetzt folgt Corona. Steht Lilly mit seiner Struktur besser da als andere? Stefan Bauer: Ich habe schon öfter in den letzten Wochen intern behauptet, dass unser Weg der letzten Jahre sich positiv auszahlen wird in dieser turbulenten Zeit. Die Bereitschaft zu Kooperation, Unterstützung, Zusammenhalt und Flexibilität, aber auch das Vertrauen ineinander sind extrem hoch. Wir werden in einigen Monaten zurückblicken und merken, dass unsere Transformationsreise sich nicht nur in dieser Krise bewährt, sondern auch positiv ausgezahlt hat. Health Relations: Gilt das auch für die externe Kommunikation mit Kunden? Stefan Bauer: Ich gehe davon aus. Der Außendienst kann Ärzte zurzeit nicht besuchen, einige sind nur schwer erreichbar. Wir haben sehr schnell einen schlagkräftigen Modus gefunden, der uns trotzdem gute und qualitativ hochwertige Kontakte ermöglicht. Sowohl in technischer Hinsicht als auch, weil alle Kollegen die erforderlichen Veränderungen rasch adaptiert haben und mitgegangen sind. Health Relations: Heißt, sie sind mit agilen Strukturen schlagkräftiger und digitaler aufgestellt?Stefan Bauer: Wie überall hat Corona auch bei uns als Katalysator gewirkt für die Digitalisierung. Es hat sich gezeigt, wie gut auch unsere technologischen Grundlagen bereits war. Wie leicht es war, sich umzustellen… Health Relations: Digitalisierung und agiles Arbeiten sind zwei Seiten derselben Münze, oder? Stefan Bauer: Wenn man innerhalb der alten Strukturen digitalisieren will, beißt sich das. Für diese Art zu arbeiten, braucht man Netzwerkstrukturen statt Hierarchien. Es ist nicht nur die Technologie allein, die in die Digitalisierung einzahlt. Die Unternehmenskultur hat einen großen Anteil an einer erfolgreichen Umsetzung. Mit „Augenhöhe“ und unserer Gemeinwohlbilanz wollen wir andere in der Branche inspirieren. Das Ziel ist die gemeinsame Transformation des gesamten Gesundheitswesens, damit Menschen nachhaltiger gesund bleiben.