Die Healthcare-Agentur Spirit Link hat Ärzte und Ärztinnen in Deutschland und den USA in einer qualitativen Umfrage zu ihren Erfahrungen im Umgang mit digitalen Veranstaltungen befragt und selbst diverse Digitalkongresse begleitet. Mit welchen Learnings? Ein Gespräch mit Julia Heitland, Partner und Senior Consultant bei Spirit Link.
Die Pandemie hat die Entwicklung von Messen und Kongressen im digitalen Raum rasant beschleunigt. Welche Unterschiede zur "analogen Welt" haben sich inzwischen herauskristallisiert?Julia Heitland © Spirit Link
Julia Heitland: Seit der Pandemie steigt die Anzahl der virtuellen Kongresse und Events stetig an. Die Konkurrenz ist groß. Wir konnten im Jahr 2020 einige Industrieunternehmen bei virtuellen Kongressen begleiten und die schlechte Nachricht ist, dass die meisten Konzepte des letzten Jahres nur leidlich funktioniert haben. Es besteht weiterhin Veränderungs- und Lernbedarf auf allen Seiten. Vor der Pandemie waren die Ziele bei Besuchern von Kongressen neue Erkenntnisse zu gewinnen, Wissenstransfer, Weiterbildung, Inspiration, aber auch der Genuss und Reisen und natürlich der soziale Austausch. Bei virtuellen Kongressen stehen ausschließlich die Themen Erkenntnisgewinn, Wissenstransfer, Weiterbildung, Inspiration im Vordergrund. Viele Besucher sehen Vorteile in den wegfallenden Reisekosten und -zeiten, aber auch in der zeitlichen Flexibilität. Es bestehen also deutliche Unterschiede, warum Ärztinnen und Ärzte digitale Kongresse besuchen.
Der Fokus liegt auf den Fakten, die decken meist das wissenschaftliche Programm ab. Was heißt das für die Angebote der Pharmaindustrie und Medizintechnik?Julia Heitland: Solange das Ziel der Industrie nicht eindeutig ist, was sie ihren Kongressbesuchern bieten wollen, werden keine nennenswerten Besucherzahlen zu erwarten sein. Vor allem dann nicht, wenn die Besucher sich nach der Registrierung für den Wissenschaftskongress nochmal separat für die Industrieausstellung registrieren müssen. Die Industrie muss sich mit der Frage auseinandersetzen, was Kunden und Interessenten bewegt, eine virtuelle Industrieausstellung zu besuchen. Diese und noch viele weitere Fragen müssen in den Mittelpunkt unseres Handelns rücken, wenn wir die Kongresswelt und deren Finanzierung sichern wollen.
"Reflexhaft wurde die Kongresswelt im vergangenen Jahr 1 : 1 in die virtuelle Welt übersetzt"
Haben Sie da einen Tipp, wie werden digitale Industrieausstellungen interessant für Besucher?Julia Heitland: Reflexhaft und absolut verständlich, wurde die Kongresswelt im vergangenen Jahr 1 : 1 in die virtuelle Welt übersetzt. Vielfach wurde der virtuelle Messestand in 3D genauso umgesetzt, wie man ihn als Live-Messe geplant hat, teilweise, weil man die Konzepte schon hatte und sich erhoffte, dass die „Live- Struktur” auch online funktionieren wird. Fakt ist: Keiner der uns bekannten 3D-Stände wurde vom Publikum angenommen und hatte nennenswerte Besucherzahlen.
Ist die Einteilung in "hier der wissenschaftliche Teil", "hier die Industrieausstellung" überhaupt noch zeitgemäß im digitalen Raum?Julia Heitland: Menschen auf Kongressen haben großes Interesse an einem Austausch und an relevanten Inhalten. Relevante Inhalte sind daher wichtiger als aufwendige 3D-Stände. Investieren Sie daher in Symposien, „Meet & Greet“-Sessions oder Expertenvorträge inklusive Diskussionsrunden. Gute Inhalte und die Möglichkeit sich auszutauschen sind Publikumsmagnete, sogar bei Personen, die virtuellen Kongressen skeptisch gegenüberstehen. Laden Sie persönlich zu zielgruppenspezifischen, interessanten Vorträgen oder Diskussionsrunden ein. Versenden Sie keine unpersonalisierten Masseneinladungen.
Was können Industrieunternehmen 2021 besser machen?Julia Heitland: Probieren Sie neue Formate aus! Haben Sie keine Angst vor Augmented- oder Virtual-Reality-Applikationen, nutzen Sie Chaträume oder denken Sie auch über regionale Public-Viewing-Möglichkeiten nach, sofern diese möglich sind. Reine Werbeveranstaltungen sind für die akademische Zielgruppe langweilig. Ärztinnen und Ärzte möchten anspruchsvolle Inhalte, Produktneuheiten oder Entwicklungserkenntnisse sehen und keine reinen Werbeblöcke.
© sh240 / Adobe Stock
Wie sieht es beim Thema Sponsoring aus? Gab es hier überzeugende Konzepte?Julia Heitland: Wir haben im Jahr 2020 keine Sponsoringkonzepte gesehen, die wirklich überzeugt hätten – ein Banner auf der Einstiegsseite des Kongresses ist kein ernstzunehmendes Sponsoring für die Industrie. Die Folge ist, dass viele Industrieunternehmen eigene Kongress- und Eventseiten veröffentlichen. Bieten die Veranstalter keine attraktiven Sponsoringmöglichkeiten, wird die Industrie alles tun, um die Besucher von der Kongressseite direkt auf die eigenen Seiten zu bringen. Verständlich, wie ich meine.
Wie kann der digitale Austausch besser gelingen?Julia Heitland: Die Menschen, die auf Kongresse gehen, wollen sich austauschen und diskutieren, daher denken Sie über Chatfunktionen, virtuelle Pausenräume, AR-Applikationen, „Meet & Greet“-Sessions mit Experten/Vortragenden oder ein regionales Public-Viewing-Event nach. Wer in gute Tools investiert, die persönliche Kontakte ermöglichen, wird Wettbewerbsvorteile haben. Auch Diskussionsrunden mit Sprechern oder Experten sollten nicht außer Acht gelassen werden. Sie können im virtuellen Raum nicht „zu viel“ Austausch anbieten, die Menschen sehnen sich nach persönlichen Kontakten, wollen aber die Entscheidungsfreiheit, ob und wann sie etwas beitragen möchten.
Ein großer Vorteil des Digitalen ist, dass Inhalte auch zu einem späteren Zeitpunkt angesehen werden können. Wie machen sich Unternehmen das zunutze?Julia Heitland: Viele Kliniker schauen sich virtuelle Kongresse in ihrer Freizeit oder am Wochenende an. Zudem bekommen nicht alle Kliniker Online-Kongresse als „Weiterbildungszeit“ angerechnet und fühlen sich deshalb unwohl, diese während der Arbeitszeit anzuschauen. Inhalte sollten daher kürzer und gut auf die Zielgruppe abgestimmt sein – im besten Fall kann man sich die Vorträge im Nachhinein „on demand“ anschauen oder sich die Abstracts zusenden lassen.
"Beschäftigen Sie sich am besten heute schon mit hybriden Kongressen"
Was heißt das für Kongressveranstalter?Julia Heitland: Kongressveranstalter sollten auf eine gute Zusammenarbeit mit der Industrie setzen und attraktive Sponsoringmöglichkeiten bieten. Dabei ist ein Banner auf der Startseite nicht ausreichend. Sie sollten außerdem Peer-to-Peer-Austausch im virtuellen Raum ermöglichen. Auch das richtige technische Equipment ist für eine virtuelle Begegnung wichtig. Wenn sich Menschen austauschen wollen, sich aber nicht verstehen können, werden sie keine guten Erlebnisse kreieren. Denken Sie gemeinsam über neue Formate mit der Industrie nach. Suchen Sie nach attraktiven Möglichkeiten den Bedarf der Zielgruppen nach einem regen Austausch zu fördern.
Und wie sieht es mit hybriden Veranstaltungen aus?Julia Heitland: Wir sind davon überzeugt, dass die Zukunft den hybriden Kongressen gehört. Auch nach der Pandemie wird eine virtuelle Teilnahme möglich sein müssen, denn wir haben gelernt, dass es funktioniert. Beschäftigen Sie sich am besten heute schon mit hybriden Kongressen, bei denen Sie zwei Zuschauerbedürfnisse befriedigen müssen: die der Zuschauer vor Ort und die der Zuschauer am Bildschirm.
Viele Veranstalter und Unternehmen überlegen lange am passenden Konzept, aus Angst, Fehler zu machen.Julia Heitland: Alle Beteiligten müssen auf diesem Terrain Dinge ausprobieren, die es noch nicht gibt und dabei lernen. Das heißt: Fehler sind erlaubt! Wer die Möglichkeiten der digitalen Kongresswelt nutzt und sinnvolle Schnittstellen zu Live-Kongressen und -Events schafft, kann nach der Pandemie beide Bühnen gleichzeitig bedienen.