Inga Bergen: „Meine Vision ist, digitale Transformation wirklich neu zu denken“
In diesem Interview lesen Sie:
- Warum Visionen ein wichtiger Motor für die Digitalisierung des Gesundheitssystems sein können
- Wer der eigentliche Treiber für digitale Themen in der Medizin in Deutschland ist
- Was das Ziel der Digitalisierung von Prozessen in Healthcare sein muss – und warum auch die Pharmabranche hier nachsitzen muss
- Welche Rolle die pharmazeutische Industrie für das Gesundheitssystem von Morgen haben könnte
- Was die zentralen Themen in Healthcare 2023 sein werden
- Pharma 2023: Worauf sich Pharmaunternehmen einstellen müssen
"Jüngere Frauen sind die Treiber der Digitalisierung, auch in den Arztpraxen oder in den Kliniken."Health Relations: Wer ist denn aus Ihrer Sicht der Treiber in Sachen Innovation?Inga Bergen: Es ist ganz interessant, wenn man sich verschiedene Studien dazu anschaut, dann sind tatsächlich jüngere Frauen die Treiber der Digitalisierung, also auch in den Arztpraxen oder in den Kliniken. In der Regel sind das die, die ins System kommen. Es gibt immer mehr weibliche Medizinstudierenden. Das sind, wenn man Umfragen und Statistiken liest, die, die offen sind für die Digitalisierungsthemen. Health Relations: Aber Offenheit alleine reicht nicht aus, oder? Woran liegt es, dass die Digitalisierung kein Selbstgänger ist?Inga Bergen:Ich glaube, Digitalisierung hat in Teilen einen schlechten Ruf, weil viele Anwendungen oder andere Angebote in der Vergangenheit Themen eher komplizierter gemacht haben als einfacher. Weil sie einfach nicht nutzerzentriert entwickelt worden sind, weil sie oft eher an den Bedarfen von Verbänden entwickelt worden sind und beispielsweise nicht am Bedarf der medizinischen Fachangestellten, die in der Praxis wirklich so ein Produkt anwenden muss. Daraus folgt: Das Unternehmertum kann die Digitalisierung im Gesundheitswesen extrem vorantreibt, weil die Lösungen, die entwickelt werden, nutzerfreundlich sein müssen. Sonst funktionieren sie halt nicht am Markt. Die Anbieter, die sich gerade jetzt in den Arztpraxen durchsetzen, müssen Lösungen anbieten, die wirklich den Arbeitsalltag erleichtern. Für mich ist Digitalisierung tatsächlich ein Vehikel für eine Transformation im Gesundheitswesen. Die Digitalisierung kann ein Stück weit an die Oberfläche bringen, wie schlecht oft Prozesse in Praxen oder in Kliniken gestaltet sind. Unser Anspruch an digitale Produkte ist, dass sie extrem einfach zu nutzen sind, dass wir da irgendwie alles finden und alles relativ einfach abbilden können. Das finde ich sehr interessant. Es geht nicht nur um einzelne Produkte, sondern es geht auch darum, zu überlegen: Wie arbeitet man eigentlich im Gesundheitswesen?
"Das Unternehmertum kann die Digitalisierung im Gesundheitswesen extrem vorantreibt, weil die Lösungen, die entwickelt werden, nutzerfreundlich sein müssen. Sonst funktionieren sie halt nicht am Markt."Health Relations: Zusammengefasst: Was genau ist Ihre Vision für das Gesundheitssystem von Morgen?Inga Bergen:Meine Vision ist, über digitale Transformation wirklich neu zu denken, wie man ein gutes Gesundheitswesen macht. Und dazu gehört auch, dass man das stärker an Menschen ausrichtet und an ihren Bedürfnissen und auch lernt, zu verstehen, dass man es nicht mit einer total homogenen Gruppe zu tun hat, sowohl bei Patient:innen als auch bei Ärzt:innen. Die Bedarfe variieren. Das ist meine Vision, dass wir zu der humanzentrierten Ausrichtung des Gesundheitswesens kommen über digitale Transformation. Health Relations: Wenn wir jetzt den Blick in die Realität lenken, wo stehen wir denn da in Sachen Digitalisierung im Gesundheitswesen, aus Ihrer Sicht?Inga Bergen:Es gibt eine riesige Spannbreite. Wenn man sich zum Beispiel Kliniken oder Arztpraxen anschaut, dann gibt es einige, die extrem innovativ sind und dann gibt es welche, die sich gar nicht mit diesem Thema befassen. Ich glaube, das ist auch wichtig zu unterscheiden, denn es ist in jedem Change-Prozess so. Man kann halt nicht sagen: Ja, das findet doch alles in der Realität nicht statt. Diese Aussage trifft vielleicht im Moment zu 70 oder 80 Prozent zu. Aber das ist in jedem Veränderungsprozess der Fall. Es gibt immer Menschen und Organisationen, die vorangehen.
"Meine Vision ist, über digitale Transformation wirklich neu zu denken, wie man ein gutes Gesundheitswesen macht."Health Relations: Sie denken in Netzwerken. Welche Position könnten Ihrer Meinung nach Pharmaunternehmen in diesem Netzwerk besetzen, um eine digitale Transformation im Sinne eines besseren Gesundheitswesens voranzutreiben?Inga Bergen:Also ich glaube, dass Pharmaunternehmen jetzt erst merken, was sie eigentlich für eine eigene Rolle spielen können im Bereich Digitalisierung im Gesundheitswesen. Schauen wir auf die Ärztinnen und Ärzte und das, was sie beschäftigt. Das sind Fragen wie: Wie hole ich eigentlich meine Patienten und Patientinnen ab? Was kann ich ihnen vielleicht an die Hand geben, damit sie ihre Erkrankung, zum Beispiel eine chronische Erkrankung, besser managen und Verlauf monitoren können? Und wie kann ich die erhobenen Daten für eine Verbesserung des Angebots nutzen? Für all solche Themen gibt es digitale Tools und ich glaube, dass das für pharmazeutische Unternehmen interessant sein muss. Ich glaube auch, dass Digitalisierung dazu führen kann, dass wir – das erleben wir bereits in den USA – zu ganz anderen Vergütungsmodellen im Gesundheitswesen kommen. Da geht es darum, was eigentlich eine Intervention bewirkt, es geht um das Ergebnis der Therapie. Nicht darum, einzelne Medikamente oder Eingriffe zu bezahlen. Aber dafür braucht man Daten, um solche neuen Modelle zum Beispiel im Gesundheitswesen zu unterstützen. Da kann sich eine ganze Menge verändern. Ich glaube, dass Pharmaunternehmen hier eine zentrale Rolle spielen, auch bei der Entwicklung von Digital Therapeutics, von Digital Companion. Health Relations: Kann die Pharmabranche so eine Art Leadership- Funktion einnehmen, um die ganzen Akteure im Gesundheitswesen unter einen Hut zu kriegen?Inga Bergen: Also ich glaube, das ist sogar eine Kernkompetenz der Pharmabranche. Die Branche ist gut im Delegieren und Orchestrieren von Maßnahmen, auch in Zusammenarbeit mit Partnern. Zudem arbeitet die Branche sehr gründlich, da sie ob des HWG in ihrer Handlungen limitiert ist. Pharmaunternehmen bringen schon eine sehr breite Kompetenz mit sich. Deswegen denke ich, wäre das Thema in der Branche gut aufgehoben. Aber die Unternehmen müssen besser werden, wenn es um nutzerzentrierte Anwendungen geht. Diese Kompetenz müssen die Unternehmen aufbauen. Denn in der Digitalisierung geht es ja auch darum, dass man den Direct Access to Customer hat, um das Produkt zu entwickeln, das genau so auch gebraucht wird.
"Pharmaunternehmen können eine zentrale Rolle spielen bei der Entwicklung von Digital Therapeutics, von Digital Companion."Health Relations: Heißt mehr Kooperation, mehr Kollaboration.Inga Bergen: Genau und tatsächlich auch ein Verständnis für die realen Berufe im Gesundheitswesen. Blicken wir zum Beispiel auf die ePA und deren Entwicklung. Das Konzept wurde anhand der Anforderungen, die Verbände und Gremien formulieren, entwickelt. Die haben aber nichts damit zu tun, was jetzt die Nutzerinnen und Nutzer eigentlich brauchen. Heißt, es ging komplett am Nutzer vorbei. Ich merke aber auch bei Veranstaltungen, dass das erkannt worden ist von der Pharmabranche. Health Relations: Wenn wir jetzt den Blick auf das kommende Jahr lenken. Was erwarten Sie 2023 an zentralen Themen, die die Gesundheitsbranche beschäftigen werden?Inga Bergen:Also ich erwarte weiterhin einen Riesen-Aufruhr im Gesundheitssystem in Deutschland. Wir haben immer mehr Ärztinnen und Ärzte, die aus dem System rausgehen wollen. Ich glaube, der Druck wird sich extrem erhöhen. Ich hoffe, dass damit auch einfach die Möglichkeit wächst, die Digitalisierung weiter voranzutreiben. Noch ein Thema, dass uns 2023 massiv beschäftigen wird, ist Desinformation. Wie kommt man eigentlich an Informationen? Wie werden Themen verbreitet, auch zu gesundheitsrelevanten Themen? Welche Player können hier eine Rolle spielen?
"Wir müssen uns verabschieden von dem Gedanken, dass wir jeden und jede auf dem Weg zu einem digitalen Gesundheitswesen mitnehmen müssen."Health Relations: Pharma 2023: Worauf muss sich speziell die Pharmabranche einstellen im kommenden Jahr?Inga Bergen:Sie muss verstehen, wer die Kund:innen sind, wirklich verstehen, was haben Patient:innen für Interessen und auch Ärzt:innen, die ja letztendlich der Hebel für den Vertrieb sind. Und sie muss im Backend verstehen, welche Daten man braucht, wie man Daten strukturieren und wie man verschiedene Kanäle nutzen kann, um auch auf Real World Data zugreifen zu können. Ich glaube, das ist sehr, sehr wichtig und eine Vorbereitung für das Gesundheitswesen der Zukunft. Fakt ist: Wir haben einfach so viele ungelöste Hausaufgaben. Die müssen jetzt alle erstmal gemacht werden. Auch vor dem Hintergrund, dass es auf dem Konsumentenmarkt eine extreme Verschiebung gibt. Gesundheit ist einer der Megatrends. Gerade auch jüngere Menschen beschäftigen sich immer mehr mit Gesundheit und Fitness. Gewinnen wird, wer die Erwartungen dieser User am besten erfüllt. Der Shift in Richtung benutzerfreundlicher Produkte wird weitergehen, weil diese Zielgruppe eine Gesundheitskompetenz mitbringt. Ich glaube, dass dieses ganze Thema auch das Gesundheitssystem extrem verändern wird. Wovon wir uns definitiv verabschieden müssen und werden ist der Gedanke, dass wir jeden und jede auf dem Weg zu einem digitalen Gesundheitswesen mitnehmen müssen, auch wenn es vielleicht nur ein kleiner Prozentsatz ist, der die Entwicklung nicht mitgehen möchte. Auch das war schon immer so bei Change-Prozessen.