Jutta Kristen, Healthcare Frauen: „Das System steht sich selbst auf den Füßen“

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Jutta Kristen, Vorstandsvorsitzende der Healthcare Frauen (Bild: Healthcare Frauen e.V.)
Jutta Kristen, Vorstandsvorsitzende der Healthcare Frauen (Bild: Healthcare Frauen e.V.)
Man könnte sagen, die Vorstandsvorsitzende der Healthcare Frauen Jutta Kristen hat die Pharmabranche durchgespielt: Positionen ohne und mit Führungsauftrag, im Inland und Ausland, in Anstellung und selbstständig – so sieht eine bewegte Karriere aus. Ein Thema begleitete Jutta Kristen durch all ihre Stationen: Seit Jahrzehnten engagiert sie sich für die Förderung von Frauen und will helfen, mehr Frauen in Führung zu bringen.

1990 stieg die studierte Diplom-Kauffrau in die Branche ein, arbeitete zehn Jahre im Pharma-Marketing. Dann ging sie ins Ausland, war zum Beispiel lange in den USA tätig. Heute blickt sie nicht nur auf mehr als 30 Jahre internationaler Führungserfahrung bei RPR, Wyeth, Pfizer oder Nelsons zurück: 2019 wagte sie zudem den Sprung in die Selbstständigkeit und ist seither als externe Beraterin unterwegs. Beim Healthcare Frauen e.V. (HCF) hat sie seit 2021 das Amt der Vorstandsvorsitzenden inne.

Health Relations: Frau Kristen, Sie engagieren sich seit 20 Jahren für Diversity- und Inklusionsthemen, insbesondere für Frauen- und Talentförderung. Warum liegen Ihnen diese Themen so am Herzen?

Jutta Kristen: Vor rund 20 Jahren bin ich ins Ausland gegangen. Diesen Weg musste ich mir erkämpfen, ich habe in Deutschland wenig Förderung erfahren. „Wir brauchen dich hier, wer soll den Job denn machen?“, solche Argumente sind mir damals begegnet. Auch an Kolleginnen habe ich gesehen, dass Barrieren aufgebaut und sie künstlich kleingehalten wurden.

In den USA ist mir ein ganz anderes Bild begegnet. Dort habe ich erlebt, wie Organisationsstrukturen Enthusiasmus fördern – wie externe Förderung Mut macht und Flügel verleiht. Ich besuchte „Women in Leadership“-Seminare, die ein international aufgestellter Konzern natürlich eher anbietet als ein deutscher Mittelständler. Als ich schließlich in Führungspositionen angekommen war und die entsprechende Macht hatte, wollte ich genau das zurückgeben: diese selbstbewusste Haltung, die Einstellung, den Führungsstil.

„Wir müssen mutig sein, Prozesse neu zu denken und neu zu machen.“

Health Relations: Was kann die deutsche Healthcare- und Pharma-Branche von den USA lernen?

Jutta Kristen: Die Beweglichkeit ist entscheidend für mich. Wir müssen mutig sein, Prozesse zu ändern, sie neu zu denken und neu zu machen. Wichtig ist aber auch zu schauen, was funktioniert und was nicht. Das ist Führung für mich: eine Vision zu entwickeln. Und mit dieser, wenn nötig, auch einen schweren Weg zu gehen und viele Stakeholder mitzunehmen. Diese Offenheit für neue Ideen können wir uns von den Amerikanern abschauen.

Health Relations: Seit 2021 sind Sie Vorstandsvorsitzende der Healthcare Frauen. Welche Ziele verfolgen Sie in dieser Position?

Jutta Kristen: Zum einen verfolge ich natürlich die Ziele des Gesamtvorstands: Wir wollen den Verein weiter professionalisieren und dadurch unseren Einfluss erhöhen. Zum anderen ist mein Schwerpunkt nach innen die organisatorische Entwicklung der HCF: Wie funktioniert ein selbstgesteuerter Beirat? Welche neuen Arbeitsformen können wir ausprobieren, wie setzen wir das praktisch um? Ein wichtiges Ziel in diesem Kontext ist, uns als Verein in die Lage zu versetzen, öffentliche und EU-Fördergelder zu akquirieren und zu verwalten. Dafür sind gewisse organisatorische Strukturen nötig.

Health Relations: Seit 30 Jahren sind Sie in der Healthcare-Branche unterwegs. Wenn Sie einmal zurückblicken, wie hat sich das Thema „Frauen in Führung“ seither entwickelt?

Jutta Kristen: Als ich 1990 meinen ersten Job als Junior Managerin angetreten bin, gab es so gut wie keine Frauen in Spitzenpositionen. Es war üblich, dass die machtvollen Verbands- und anderen Positionen an Männer gingen. Auch unter Frauen gab es oft die Haltung „Ach, mit Firmen- oder Verbandspolitik will ich nichts zu tun haben.“

Anfang der 2000er entstanden dann erste Initiativen von Frauen, sich zu verbinden. Zu dem Zeitpunkt erlebte ich in den USA schon damals viel selbstverständlicher Frauen in Führungspositionen. Nach meiner Rückkehr nach Europa 2010 war ich enttäuscht, dass sich hier an den Strukturen seit den 90ern kaum etwas geändert hatte.

Health Relations: Wieso geht die Entwicklung im Gesundheitssystem Ihrer Meinung nach so langsam voran?

Jutta Kristen: Das Gesundheitssystem in Deutschland hat eine Spezifität: Unter dem Deckmantel der Qualitätssicherung sind die Strukturen sehr starr und bürokratisch, man probiert sehr wenig aus. Die überholten hierarchischen Strukturen halten sich entsprechend lang. Andere Branchen überleben nur, wenn sie innovativ sind.

Zudem liegt es oft schlicht an den Arbeitsbedingungen. In Kliniken beispielsweise sind Posten wie Chef- oder Oberarzt so ausgelegt, dass man sie nur als Single oder mit einem 100-prozentigen Back-Up zu Hause erledigen kann. Zwar kann dies auch der männliche Teil sein – aber Rollentausch ist halt auch nicht die Lösung. Hinzu kommen Geldknappheit und Ressourcenmangel, die den Kliniken den Wandel zusätzlich erschweren – das System steht sich selbst auf den Füßen.

„Eine Transformation ist nötig. Nur über eine gemeinsame Vision gibt es noch keine Einigkeit.“

In den letzten vier oder fünf Jahren gab es einen unglaublichen „Shake-up“. Nicht nur getrieben durch Corona: Auch wegen des demografischen Wandels funktionieren die alten Strukturen im Gesundheitswesen einfach nicht mehr. Deshalb gibt es gerade sehr viele Überlegungen, wie wir es besser machen können. Es ist also angekommen: Eine Transformation ist nötig. Nur über eine gemeinsame Vision gibt es noch keine Einigkeit. Wir als Healthcare Frauen sehen es als unsere Aufgabe, weibliche Perspektiven einzubringen und zur Enthierarchisierung der Strukturen beizutragen.

Health Relations: Auf der Frühjahrstagung der HCF sagten Sie, es mangele an Führungsstrukturen, die Vielfalt ermöglichen. Wie würden solche Führungsstrukturen idealerweise aussehen?  

Jutta Kristen: Ich wünsche uns mehr Kreativität und flexibles Arbeiten. Wenn wir in Karriere denken, sollten wir das nicht linear tun. Die Menschen sollten mehr Wahlmöglichkeiten haben, wann sie studieren, arbeiten, vielleicht nochmal studieren, ein Ehrenamt übernehmen und so weiter. All diese Stationen müssen wertgeschätzt und akzeptiert werden, denn die Erfahrungen daraus können im nächsten Job immens wertvoll sein.

Außerdem sollte Führung immer auf das Potenzial von Menschen ausgerichtet sein. Welche Talente bringt eine Person mit? In welche Richtung kann und will sie sich entwickeln? Die Haltung sollte lauten „Wir bringen uns gegenseitig weiter“ und nicht „Du bist hier Pflegekraft, deine Leistung sind 45 Stunden und dafür kriegst du Geld.“ Diese Art von Führung muss sich auch in neuen Organisationsstrukturen niederschlagen: Wir brauchen Strukturen, die Vielfalt ermöglichen, sodass unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Stärken erfolgreich sein können. Und nicht zuletzt müssen wir viel mehr kooperieren und Silogrenzen überwinden. Nur so ist echte Innovation möglich.

Health Relations: Was sind die wichtigsten Hebel, um mehr Frauen in Healthcare und Pharma in Führung zu bringen?  

Jutta Kristen: Das muss von mehreren Seiten „gehebelt“ werden. Zum einen von der Frau selbst – sie braucht nicht nur die entsprechenden Skills, sondern auch die nötige Haltung. Zum anderen können wir durch Wertschätzung mehr Lust an Verantwortung erzeugen. Und es darf Frauen auch die Angst genommen werden vor dem Politik-Machen. Wir dürfen Lust auf Verhandlungen haben, um unsere Macht zu nutzen. Mein großer Wunsch ist, dass Frauen nicht mehr zucken, wenn man ihnen sagt „Nutze deine Macht“. Denn Macht bedeutet nicht immer nur Autorität – vielmehr geht es darum, unsere Perspektiven und Interessen dort, wo wir die Macht dazu haben, auch einzubringen und zu nutzen.

Zum anderen ist es essenziell, dass wir als Gesellschaft – Männer und Frauen! – das Fehlen von Frauen in Führungsgremien lautstark und mutig aufzeigen und kritisieren. Umgekehrt sollte belohnt werden, wer Frauen in ihrer Karriere entwickelt – ob als Unternehmen oder individuell.

„Mein großer Wunsch ist, dass Frauen nicht mehr zucken, wenn man ihnen sagt ‚Nutze deine Macht‘.“

Health Relations: Wie setzen sich die Healthcare Frauen konkret dafür ein – haben Sie ein Beispiel?

Jutta Kristen: Ein großer Baustein ist unser Mentoring-Programm. Dafür bilden wir seit 15 Jahren Mentorinnen aus und bringen diese mit Mentees aus der Branche zusammen. Das Ziel: Die Mentees sollen in die Lage versetzt werden, Forderungen zu stellen und sich klar zu positionieren. Wir beleuchten konkrete Situationen und ermöglichen so ein Lernen an der Praxis.

Was ich bemerkenswert finde: Die Generation, die jetzt kommt, sucht viel mehr nach individueller Wahlmöglichkeit als nach der klassischen Karriere. Deshalb haben wir jetzt auch eine Initiative für ein „Reverse Mentoring“ gestartet: Jüngere Frauen können uns älteren in vielen Dingen auch helfen. Damit meine ich nicht EDV-Themen, sondern denke gerade auch an Haltungsfragen. Die Welt hat sich geändert und wir wollen durch den Perspektivwechsel zu besseren, nachhaltigeren Lösungen kommen. Alter spielt da keine Rolle.

Health Relations: Was würden Sie jungen Frauen raten, die heute frisch in die Healthcare-Branche einsteigen?

Jutta Kristen: Ein wesentlicher Punkt, den ich meinen Mentees mitgebe, ist sehr früh eine Draufsicht zu bekommen auf die Organisation, in der sie arbeiten: Wie ist meine Arbeitsstelle aufgebaut? Was sind die Ziele der Gesamtorganisation über meine Abteilung hinaus? Was sind die Vorstandsvisionen?  Mit genug Neugier können sie davon Fragen ableiten und großes Interesse demonstrieren. Nur so kann man tatsächlich weiterkommen. Du brauchst und möchtest herausfordernde Aufgaben haben, was ändern und bewegen? Dann verschaffe dir diesen Höhenblick.

Darüber hinaus empfehle ich, sich früh intensiv zu vernetzen. Dass ich zu den Healthcare Frauen gekommen bin, habe ich zum Beispiel einer Kollegin aus meinem allerersten Arbeitsjahr zu verdanken. Solche Verbindungen tragen oft ein ganzes Berufsleben lang.

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