Dr. Martin Hager, Roche: „Wir setzen heute verstärkt auf Dialogformate.“
Dr. Martin Hager: Personalisierte Medizin ist eine Vision – aber eine Vision, die zunehmend Realität wird. Wir haben schon heute zahlreiche Beispiele, wie Patientinnen und Patienten in der täglichen Versorgung von personalisierter Medizin profitieren können. Wir müssen uns nur einmal vergegenwärtigen, welche Fortschritte innerhalb weniger Jahre in der Onkologie erzielt wurden: Hier nutzen wir heute Technologien, die es uns ermöglichen, von jedem einzelnen Tumor innerhalb kürzester Zeit ein individuelles Profil zu erstellen – dafür braucht es mittlerweile nur noch ein paar Tropfen Blut. Und gleichzeitig haben wir auch immer mehr Arzneimittel, die hochpräzise auf die Eigenschaften von Tumoren und die individuellen Bedürfnisse von Patientinnen und Patienten zugeschnitten sind. Hier sprechen wir schon heute von zahlreichen zielgerichteten Substanzen, von Krebsimmuntherapien und Zelltherapien – und schon bald werden wir beispielsweise auch von Krebsvakzinen sprechen, von Substanzen, die individuell für die einzelne Patientin und den einzelnen Patienten hergestellt werden. Das sind bahnbrechende Fortschritte, die für das Leben und die Lebensqualität von Betroffenen einen enormen Unterschied bedeuten können und zurecht Hoffnung machen.
Health Relations: Personalisierte Medizin ist in aller Munde. Reden wir hier von Vision oder Wirklichkeit?"Wir sind bei Weitem noch nicht so weit, wie wir heute sein könnten – und das gilt insbesondere auch für die breite Versorgung jenseits der medizinischen Spitzenzentren."Health Relations: Bezieht sich personalisierte Medizin auf einzelne Bereiche wie Onkologie oder doch auf das gesamte Gesundheitssystem?Dr. Martin Hager: Die Onkologie ist hier zweifellos ein Vorreiter – gleichzeitig sehen wir aber, dass auch in anderen Bereichen, beispielsweise bei neurodegenerativen Erkrankungen, die personalisierte Medizin zunehmend in den Fokus rückt. Ich denke, letzten Endes geht es vor allem darum, personalisierte Medizin holistisch zu begreifen – als personalisierte Gesundheitsversorgung, die den einzelnen Menschen mit seinen individuellen Bedürfnissen in den Mittelpunkt rückt. Und wenn wir das weiterdenken, bedeutet das auch, dass wir in Zukunft nicht mehr nur Erkrankungen behandeln, sondern immer öfter auch Gesundheit wiederherstellen werden. Diese Vision einer Gesundheitsversorgung im tatsächlichen Sinne scheint zunehmend möglich – geht aber in der Tat mit enormen Herausforderungen einher, die Veränderungen von unserem gesamten Gesundheitssystem verlangt. Health Relations: Wo stehen wir denn auf dem Weg hin zur Umsetzung dieser Vision?Dr. Martin Hager: Die gute Nachricht ist, dass wir hier einerseits sehr viel Dynamik und auch Fortschritte erleben. Zu unserer Realität gehört andererseits aber auch: Wir sind bei Weitem noch nicht so weit, wie wir heute sein könnten – und das gilt insbesondere auch für die breite Versorgung jenseits der medizinischen Spitzenzentren. Bleiben wir bei der molekularen Diagnostik: In Deutschland erhält bislang nur eine Minderheit der Krebspatientinnen überhaupt Zugang zu umfassender molekularer Diagnostik. Dabei kann diese gerade für Patientinnen und Patienten mit Tumoren, die unter bestehenden Standards eine schlechte Prognose aufweisen, neue Behandlungs- und somit auch Lebensperspektiven eröffnen. Das hat natürlich einerseits mit Fragen der Erstattung zu tun – andererseits aber auch mit Fragen der Evidenz, die heute verstärkt, auch im Rahmen der Routineversorgung generiert werden muss. Health Relations: Welche Hürden gibt es aus Ihrer Sicht bei der Umsetzung der personalisierten Medizin genau?Dr. Martin Hager: Es fehlt vor allem an Austausch und Vernetzung – und dies schon auf rein technischer Ebene. Die aktuelle COVID-19-Pandemie führt uns den Digitalisierungsgrad unseres Gesundheitssystems gerade vor Augen: Infektionsnachweise werden hierzulande noch immer zu großen Teilen per Fax übermittelt. Das zeigt in aller Deutlichkeit, dass die Versorgungsrealität in Deutschland des Jahres 2020 in weiten Teilen noch nicht im digitalen Zeitalter angekommen ist. Bis heute werden Informationen noch immer viel zu oft nur auf dem Papier ausgetauscht – und gehen damit letztlich verloren. Dabei haben wir längst die notwendigen Technologien, um die Millionen von Daten, die Tag für Tag in der Routineversorgung generiert werden, strukturiert zu erfassen, miteinander zu vernetzten und somit letztlich überhaupt erst nutzbar zu machen. Oder anders ausgedrückt: Wir könnten heute eine lernende Gesundheitsversorgung etablieren, die mit jeder Behandlung heute neues Wissen für die Zukunft generiert – und kämen damit einer personalisierten Gesundheitsversorgung mit jeder Behandlung näher. Health Relations: Schauen wir auf die Ärzte: Wie offen stehen diese dem Thema gegenüber? Immerhin bedeuten mehr Therapiemöglichkeiten auch, dass jene den Überblick behalten müssen. Und gegebenenfalls ihren Workflow ändern müssen.Dr. Martin Hager: Grundsätzlich erleben wir vonseiten der Ärzteschaft sehr viel Offenheit. Letztlich sind es schließlich auch die Ärztinnen und Ärzte, die Fortschritte durch personalisierte Medizin in der täglichen Praxis hautnah erleben. Und natürlich macht es da einen Unterschied, ob sie einer Patientin oder einem Patienten mit einer seltenen Tumormutation eine nur unspezifisch wirkende Chemotherapie anbieten müssen – oder ein personalisiertes Medikament, das hochpräzise gegen die Mutation wirkt. Außer Frage steht aber natürlich auch, dass mit dem Fortschritt die Komplexität weiter steigen wird. Hier werden digitale Technologien, die Ärztinnen und Ärzte mit intelligenten Algorithmen bei der Therapieentscheidung unterstützen, zweifellos weiter an Bedeutung gewinnen – und damit verändert sich natürlich auch die Rolle des Behandlers. Health Relations: Wo ist in der Zusammenarbeit mit Ärzten der größte Change gefragt? Was muss sich maßgeblich ändern?Dr. Martin Hager: Die digitale Transformation unseres Gesundheitswesens hin zu einer personalisierten Gesundheitsversorgung können wir nur gemeinsam gestalten. Und gemeinsam stehen wir auch vor der Herausforderung, die zunehmende Komplexität zu meistern und holistische Behandlungskonzepte zu entwickeln, die wachsendes Wissen, Erfahrungen und technologischen Fortschritt bestmöglich in Patientennutzen überführen. Um dies zu erreichen, müssen wir noch stärker aufeinander zugehen und gegenseitiges Vertrauen aufbauen. Das gilt übrigens nicht nur für die Kooperation mit der Ärzteschaft, sondern für die Zusammenarbeit aller Beteiligten im Gesundheitssystem.
"Wir müssen Kommunikation vor allem auch als das verstehen, was sie im ursprünglichen Sinne ist: Austausch - und dazu gehört vor allem auch Zuhören."Health Relations: Gibt es bereits Maßnahmen in ihrem Unternehmen, um den Arzt bzw. Facharzt in die Entwicklung von individuellen Therapien einzubeziehen? Dr. Martin Hager: Selbstverständlich, die Ausrichtung an der klinischen Praxis ist unabdingbar, um medizinischen Fortschritt zu erzielen – und das geht natürlich nur unter enger Einbeziehung der ärztlichen Kolleginnen und Kollegen. Das ist aber auch nicht neu: Ärztinnen und Ärzte haben beispielsweise schon immer im Rahmen von klinischen Prüfungen maßgeblichen Anteil an der Entwicklung von Therapien genommen. Schon immer waren wir auf den intensiven Austausch angewiesen, wenn es darum geht, den Nutzen eines Medikaments zu schärfen, beispielsweise durch die Festlegung auf eine bestimmte Therapiesituation. Neu sind im Kontext der personalisierten Medizin aber zweifellos einige Fragestellungen: So arbeiten wir beispielsweise nicht nur gemeinsam an Konzepten, wie wir personalisierte Medizin in speziellen Therapiesituationen weiter verankern können, sondern beispielsweise auch daran, wie wir Daten, die über Wearables oder Gesundheits-Apps in der täglichen Versorgung erfasst werden, für medizinischen Fortschritt nutzbar machen können. Health Relations: Angesichts all dieser Veränderungen: Welche Rolle spielt Kommunikation? Wie kann das Thema vorangebracht werden?Dr. Martin Hager: Kommunikation nimmt hier zweifelsohne eine ganz entscheidende Rolle ein; und das nicht nur im Sinne von Informationsvermittlung. Wir müssen Kommunikation vor allem auch als das verstehen, was sie im ursprünglichen Sinne ist: Austausch – und dazu gehört vor allem auch Zuhören. Wir setzen daher heute verstärkt auf Dialogformate – offline, aber in Folge von COVID-19 auch zunehmend virtuell. Gleichzeitig darf diese Kommunikation aber nicht nur innerhalb des Gesundheitssystems stattfinden. Die Veränderungen, die mit der digitalen Transformation in der Medizin einhergehen, betreffen jeden von uns – und natürlich ist das zum Teil mit Ängsten und diffusen Vorurteilen belegt. Hier braucht es klare Kommunikation, um unterschiedliche Perspektiven in einer aufgeklärten gesellschaftlichen Debatte zusammenzuführen.