Mit einer vertraglichen Abmachung haben 2 Hersteller, der Spitzenverband der Krankenkassen und der G-BA einen neuen Weg beschritten, der nicht ohne Konsequenzen bleiben wird.
Seit man nach dem zweiten Weltkrieg die katastrophale Nahrungsmittelverknappung in Europa überwunden hatte, Fehlernährung, Übergewicht und Bewegungsmangel als Verursacher der Zivilisationskrankheiten identifiziert worden waren, ist ein simpler Laborwert namens „Cholesterin“ in wenigen Jahren Bestandteil unserer Umgangssprache geworden. Erhöhtes Cholesterin und Herzinfarkt samt Schlaganfällen sind im Laienverständnis zwei Seiten der gleichen Medaille.
Risikofaktor Atherosklerose
Dr. Bausch hat in seiner Funktion als hessischer KV-Vorsitzender und Mitglied des Vorstands der KBV ca. 20 Jahre im GBA als Arzneimittelsachverständiger mitgearbeitet und war Mitglied der Positivlistenkommission des BMG. Für Health Relations berichtet Bausch über die aktuellen Themen rundum das AMNOG und Nutzenbewertungen.
In Fachkreisen war schon lange klar: Erhöhte Cholesterinwerte sind einer von vielen Risikofaktoren für kardiovaskuläre Desaster. Da aber
viele andere Risikofaktoren wie Lebensstil, Alter, Geschlecht, genetisches Profil usw. nicht korrigiert werden können, konzentriert sich das ärztliche Handeln auf den Laborparameter „Cholesterin“ – insbesondere das LDL-Cholesterin – mit immer intensiver werdenden Mühen einer therapeutischen Zielwerterreichung. Über die Jahrzehnte wurden ohnehin die als tolerant geltenden Normwerte mehrfach gesenkt.
An der schematischen und übertriebenen Surrogatparameterbehandlung erhöhter Lipidwerte ohne Berücksichtigung des Risikoprofils eines Patienten sind Generationen von Ärzten beteiligt. Den Patienten wars Recht, auch ohne Diät und Bewegung bewirkte die Pille gegen Cholesterin im Blut scheinbar eine „Absolution“ für modernes Fehlverhalten in der Industriegesellschaft.
Leitsubstanz Statin
Lange Jahre waren und sind die Statine mit ihren cholesterinsenkenden Effekten die Leitsubstanzen weltweit.
Die Ezetimib-Rolle wird immer noch kontrovers diskutiert, da Studienergebnisse zu Mortalität und Morbidität im Verbund mit Statinen nicht so recht überzeugen wollen.
Da die überwiegende Zahl der zur Zeit verfügbaren Wirkstoffe generisch – sprich billig – zur Verfügung stehen, ist der Streit um die Sinnhaftigkeit der verbreiteten reinen Surrogattherapie als unwirtschaftliches Handeln der Kassenärzte abgeflaut. Die diesbezüglichen Therapiehinweise des G-BA und die Aktivitäten der KVen zur Ausgabensteuerung in der Lipidtherapie sind dank generischem Wettbewerb Vergangenheit.
Neue Wirkstoffgruppe: PCSK9-Antikörper
Mit einer äußerst erfolgversprechenden neuen Wirkstoffgruppe zur Absenkung erhöhter LDL-Cholesterinwerte erhöht sich jedoch das Risiko erheblicher Ausgabensteigerungen in diesem Sektor bemerkenswert. Ob es auch zu einer Minderung von Herzinfarkten und Schlaganfällen kommt – also zu einer Risikoreduktion in Morbidität und Mortalität – weiß man bislang noch nicht.
Zu dieser Wirkstoffgruppe der PCSK9-Antikörper gehören Alirocumab / Praluent® und Evolocumab / Repatha®. Beide verfügen in Deutschland über eine Zulassung und eine aktuelle Nutzenbewertung des G-BA. Ganz vereinfacht ausgedrückt fördern diese neuen Wirkstoffe den Cholesterinabbau in der Leber. Das tuen sie zuverlässig und erheblich.
Ohne bedenkliche Nebenwirkungen, auch bei Patienten, die bereits zuvor ohne hinreichenden Erfolg mit Statinen behandelt worden waren.Repatha® und Praluent® verfügen über eine breite Zulassung, die nicht nur Patienten umfasst, die zu der seltenen Gruppe der hochgefährdeten homo- und heterozygoten Dyslipidämien zählen, sondern auch zur Therapie von Patienten mit Statinintoleranz, Kontraindikationen und solchen, bei denen trotz max. verträglicher Statintherapie die Zielwerte nicht erreicht werden.PCSK9-Inhibitoren: Nahezu alle Patienten, die von der neuen Therapie profitieren könnten, sind eingeschlossen in dem neuartigen Agreement zwischen G-BA, dem Spitzenverband der Krankenkassen und der Hersteller. Die Hersteller bleiben vorerst im deutschen Markt.
Extreme Kosten
Bei Jahrestherapiekosten pro Patient von ~ 9.500 € - vor Preisverhandlungen – und geschätzten 270.000 Patienten errechnet sich ein Betrag von
2,56 Mrd. € / Jahr. Das ist gewaltig und beitragssatzrelevant.
Zusatznutzen nicht belegt
Der G-BA hat – ohne auf die filigranen Einzelheiten der abgeschlossenen Bewertungsverfahren einzugehen – festgestellt:
„Ein Zusatznutzen ist nicht belegt.“
Normalerweise ist nach einem solch negativem Bewertungsergebnis für den Hersteller die Party beendet. Er hat bei Arzneien ohne Zusatznutzen nur einen Erstattungspreis unterhalb der zweckmäßigen Vergleichstherapie zu erwarten, oder solche Wirkstoffe werden – so vorhanden - in eine Festbetragsgruppe eingruppiert.
Das ist für eine Neuentwicklung zu wenig.Erstattung gangbar gemacht
Nicht aber im Fall von Alirocumab und Evolocumab. Hier hat sich der G-BA im Einvernehmen mit den beiden Herstellern und dem Spitzenverband der Krankenkassen entschlossen, folgende vollkommen unkonventionelle Entscheidung zu treffen, die ohne Beispiel ist:
Die beiden neuen Produkte im deutschen Markt werden von der Verordnung zu Lasten der gesetzlichen Kassen ausgeschlossen.Ein Verordnungsausschluss nur auf dem Papier
Das gab es bislang nicht, dass zwei Hersteller einverstanden waren, dass ihr Produkt nicht verordnet werden darf.
Allerdings ist dies kein kompletter Ausschluss. Und die Zustimmung war auch nur möglich, weil in der frühen Nutzenbewertung klinisch relevante Studiendaten noch nicht geliefert werden konnten. Man darf aber davon ausgehen, dass die beiden Hersteller samt der Fachwelt der Lipidologen sich sicher sind, dass die PCSK9-Inhibitoren nach den Statinen durch die Lieferung klinischer Belege zeigen können, dass sie im Vergleich zur zweckmäßigen Vergleichstherapie einen Zusatznutzen aufweisen werden. Die 4-S-Studie zu Simvastatin lässt herzlich grüßen! Einschlägige Studien laufen weltweit.
So können die
Patienten mit schweren familiären Hyperlipidämien mit den neuen und hochwirksamen Wirkstoffen behandelt werden. Und der eine oder andere Problemfall z. B. aus den
Lipidambulanzen wegen Unverträglichkeit, Kontraindikation, etc. ebenfalls.
Die Firmen stehen mit diesem Agreement nicht vor der Entscheidung, ob sie im deutschen Markt bleiben sollen. Denn nahezu alle Patienten, die von der neuen Therapie profitieren könnten, sind eingeschlossen in dem G-BA-Beschluss.Neue Daten sind zu erwarten
Und beide Hersteller haben Zeit, die erforderlichen Daten nachzuliefern, nach denen dann eine Neubewertung erfolgen wird. Bis dahin wird man auch mehr über die Frage wissen, ob und
welche Langzeitprobleme auftauchen, wenn man LDL-Cholesterin extrem stark im Serum vieler Menschen absenkt, um Infarkte zu vermeiden.
„Es liegt in der Natur der Dinge, dass man nicht ein Übel beseitigen kann, ohne dass es an einer anderen Stelle wieder auftaucht“. Das hatte bereits vor 500 Jahren Macchiavelli festgestellt, aber der war bekanntlich Politiker und kein Lipidologe.
Bausch: "Spätestens als Generikum kann die neue Wirkstoffgruppe PCSK9 weltweiter Therapiestandard werden."
GBA auf neuen Wegen
Der G-BA hat bei der neuen Wirkstoffgruppe der PSCK9-Inhibitoren eine kluge Entscheidung herbeigeführt, die in den Vorgaben des AMNOG und der Verfahrensordnung des G-BA nicht vorgesehen ist.Denn beide Hersteller müssten aus ökonomischen Zwängen den deutschen Markt verlassen, um sich den Referenzpreis für Europa und Asien nicht zu verderben. Was mit Blick auf die Versorgung von Patienten mit schweren Hyperlipidämien, denen man trotz vorhandener therapeutischer Alternativen nicht beikommen kann, nicht zu verantworten gewesen wäre. Dennoch klinisch relevante Ergebnisse fehlen und müssen geliefert werden.Bleibt es bei den bisher bekannten Sicherheitsdaten von Repatha® und Praluent®, dann werden diese Neulinge auf dem Lipidmarkt spätestens mit dem Patentverlust als Generikum der weltweite Therapiestandard. Es sei denn, dass trotz gesenkter LDL-Cholesterinspiegel kardiovaskuläre Ereignisse nicht reduziert werden konnten. Und eine zu extreme Absenkung des Cholesterins nicht neue, aber andere Probleme provoziert.
Redaktioneller Hinweis: Zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Artikels (28.06.2016) war die Entscheidung für Alirocumab/Repatha® noch nicht veröffentlicht, aber konsentiert.