Warum sollte sich Pharma mit „Longevity“ beschäftigen?
Die Pharmaindustrie könnte beim Megatrend „Longevity“ eine entscheidende Rolle spielen, aber ein langes und gesundes Leben hängt nicht allein von medizinischen Fortschritten ab. Im Interview erklärt Dr. Gerd Wirtz, Keynote Speaker, Moderator und promovierter Neurophysiologe, warum Eigenverantwortung und ein bewusster Lebensstil für die Lebensverlängerung wichtig sind. Seine Ansichten hat er in einem neuen Buch zusammengefasst.
Health Relations: Ist es für einen heute 40-jährigen Menschen noch möglich, bei guter Gesundheit 100 Jahre alt zu werden?
Dr. Gerd Wirtz: Das ist eine gute Frage, die sich leicht mit einem klaren JA beantworten lässt. 2023 erschien eine aufsehenerregende Langzeitstudie aus den USA, die zeigt, dass 40-jährige Männer ihre Lebensspanne potenziell um beeindruckende 23 Jahre verlängern können, wenn sie ihren Lebensstil in verschiedenen Bereichen optimieren. Allerdings hängen solche Ergebnisse immer auch von zahlreichen individuellen Faktoren ab. Dennoch: Wir haben es zu einem großen Teil selbst in der Hand, unsere gesunde Lebensspanne zu verlängern.
Health Relations: Longevity, also Langlebigkeit, ist einer der großen gesellschaftlichen Trends. Sie haben dazu gerade ein Buch veröffentlicht, das den Untertitel „Anleitung für ein langes und gesundes Leben“ trägt. Was müssen Menschen machen oder unterlassen, die den Wunsch haben, gesund länger zu leben?
Gerd Wirtz: In unserem Buch stellen wir wesentliche Säulen für ein langes Leben vor. Diese mögen zunächst umfangreich erscheinen, aber mit unserer „SMART“-Variante können Sie 80 % Ihrer Gewohnheiten beibehalten und dennoch bemerkenswerte Ergebnisse erzielen. Es geht darum, kleine, aber wirkungsvolle Änderungen vorzunehmen, die langfristig große Unterschiede machen können. Verzichten Sie beispielsweise auf Aufzüge und nehmen Treppen oder parken Sie Ihr Auto bewusst einen Kilometer von Ihrem Ziel entfernt. Auch Balanceübungen (z.B. auf einem Bein wippen beim Zähneputzen) haben schon merkbare Wirkungen. Und wussten Sie, dass ein Treffen mit Freunden ähnlich wichtig für ein langes Leben ist, wie ein Besuch im Fitnessstudio? Social Health ist neben Bewegung eine ganz wichtige Säule.
„Die höchsten Forschungsbudgets in der Medizin werden schon für Longevity ausgegeben. Da sind viele therapeutische Lösungen zu erwarten.“
Health Relations: Es liegt also vieles im Verhalten des Einzelnen – sofern er den Zugang zu z.B. gesunden Lebensmitteln, Bewegung und medizinischer Vorsorge hat. Sehen Sie Longevity auch als gesellschaftliche Aufgabe?
Gerd Wirtz: Auf jeden Fall. Ich habe mich bei den Recherchen zu meinem Buch auch intensiv mit den „Blue Zones“ beschäftigt (Blue Zones sind Regionen weltweit, in denen Menschen eine sehr hohe Lebenserwartung bei guter Gesundheit aufweisen. Anm. d. Red.). Die Blue Zones zeigen uns, dass soziale Rahmenbedingungen entscheidend für ein langes Leben sind. Bildung über Gesundheit sollte bereits in Schulen beginnen, und auch die Stadtplanung kann dazu beitragen, gesündere Lebensumgebungen zu schaffen. Singapur ist ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie staatliche Maßnahmen eine moderne „Blue Zone“ schaffen können.
Health Relations: Welche Rolle spielt die Pharmaindustrie im Kontext von Langlebigkeit? Warum sollte sich Pharma mit „gesunder Longevity“ beschäftigen?
Gerd Wirtz: Die „TAME“-Studie in den USA untersucht derzeit, ob ein bestimmtes Medikament altersbedingte Erkrankungen verzögern kann. Die Ergebnisse dieser Forschung stehen noch aus. Doch damit ist das Thema „Longevity“ in der Pharmaindustrie angekommen. Die höchsten Forschungsbudgets in der Medizin werden schon für Longevity ausgegeben. Da sind viele therapeutische Lösungen zu erwarten und auch in Deutschland werden die Menschen zunehmend bereit sein, in ihre eigene Gesundheit zu investieren. Da sehe ich ein enormes Marktpotenzial.
„Statt nur auf Früherkennung zu setzen, sollten wir einen Schritt weitergehen: Wir können Menschen mit genetischer Prädisposition für bestimmte Erkrankungen identifizieren und ihnen gezielt helfen.“
Health Relations: Oder geht es eher darum, die großen chronischen Erkrankungen – Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, neurodegenerative Erkrankungen und Stoffwechselstörungen – besser zu managen, z.B. über digitale Gesundheitslösungen, die u.a. von Pharmaunternehmen entwickelt werden?
Gerd Wirtz: Absolut, der Schlüssel liegt in der Prävention von Zivilisationskrankheiten durch Lebensstilveränderungen. Hier sehe ich ein spannendes Potenzial für die Pharmaindustrie, ganzheitliche Ansätze zu entwickeln. Statt nur auf Früherkennung zu setzen, sollten wir einen Schritt weitergehen: Wir können Menschen mit genetischer Prädisposition für bestimmte Erkrankungen identifizieren und ihnen gezielt helfen. Digitale Gesundheitsanwendungen spielen dabei eine wichtige Rolle. Sie können diese Menschen bei einem gesunden Lebensstil unterstützen und so das Risiko für Erkrankungen senken. Das ist der erste Schritt. Sollte es dennoch zur Erkrankung kommen, ist der nächste logische Schritt die Bereitstellung individueller, maßgeschneiderter Therapien.
Health Relations: Gibt es in Zukunft noch ein „natürliches Altern“ im Sinne eines unveränderlichen, biologischen Verlaufs?
Gerd Wirtz: Unsere derzeitige Lebensspanne beträgt in Deutschland ca. 81 Jahre. Das Problem ist, dass wir unsere letzte Lebensdekade mit chronischen Krankheiten verbringen. Unser Ziel sollte sein, die gesunde Lebensspanne zu verlängern. Anstatt die letzten Lebensjahre mit Krankheiten zu verbringen, sollten wir darauf hinarbeiten, bis ins hohe Alter gesund zu bleiben und dann nach kurzer Krankheit friedlich zu sterben.
Health Relations: Was hat Sie persönlich dazu motiviert, dieses Buch zu schreiben?
Gerd Wirtz: Seit über 20 Jahren bin ich als Keynote Speaker und Medizinmoderator tätig und sehe immer wieder ungenutztes Potenzial in unserer Medizin. Mein Ziel ist es, Menschen durch Vorträge und Bücher die Möglichkeiten der modernen Medizin verständlich und unterhaltsam näherzubringen. Es ist mir ein Anliegen, das Bewusstsein für Gesundheit zu stärken und Menschen zu inspirieren, das Beste aus ihrem Leben herauszuholen.
Über das Buch
Den Wunsch nach einem langen Leben hegen viele Menschen. Doch oft büßen wir im hohen Alter die gewohnte Lebensqualität ein. Krankheiten wie Alzheimer, Diabetes und Krebs sind dafür verantwortlich. Die gute Nachricht: Wir können alle etwas dafür tun, um länger gut zu leben.
Das Herzstück des Buches bilden die acht Säulen der Langlebigkeit, mit denen man einen Weg für ein gesünderes und glücklicheres Dasein einschlagen kann. Durch bestimmte Körperübungen sorgt man zum Beispiel aktiv für ein starkes Herz und einen gesunden Körper. Die richtige Ernährung unterstützt ein langes und gesundes Leben. Ausreichend guter Schlaf regeneriert und erneuert die Zellen. Ergänzt durch seelische Gesundheit erhält man die nötige innere Balance. Abgerundet wird das Buch mit einer konkreten Schritt-für-Schritt-Anleitung, wie Sie das Erlernte in Ihrem persönlichen Langlebigkeitsplan umsetzen können.
Die Autoren: Dr. Gerd Wirtz, Prof. Dr. Volker Limmroth