Dr. Matthias Staritz, IQVIA: Was macht einen Produktlaunch erfolgreich?
Ein erfolgreicher Launch im Pharmamarkt braucht heute mehr als ein gutes Produkt. Neue Therapien werden immer komplexer – insbesondere bei innovativen Ansätzen wie der Behandlung von Adipositas oder modernen Krebstherapien. Dr. Matthias Staritz von IQVIA spricht im Interview darüber, wie Pharmaunternehmen ihre Strategien anpassen müssen, um Ärzte, Patienten, Kostenträger sowie die Gesundheitspolitik mit ins Boot zu holen. Er erklärt, warum Unique Value Propositions, gezielte Stakeholder-Kommunikation und die Etablierung strukturierter Versorgungspfade entscheidend sind. Ein Einblick in die Mechanismen hinter einem gelungenen Produktlaunch.
Launch Excellence: Erfolgsfaktoren und strategische Planung
Health Relations: Welche Faktoren sind wichtig für einen erfolgreichen Produktlaunch?
Dr. Matthias Staritz: Ein wesentlicher Faktor ist, dass das Produkt selbst stark ist – und das gilt es im Pharmamarketing darzustellen von Anfang an. Dass das eine Herausforderung ist und anders funktioniert als das klassisches Produktmarketing, ist klar. So steht und fällt der Erfolg eines Launches mit der klaren Unique Value Proposition. Der Innovationscharakter des Produktes und dessen ganzheitlicher Mehrwert für alle Teilnehmer im Gesundheitswesen muss dargestellt sein. Die Zielgruppenansprache erfolgt passgenau für die verschiedenen Stakeholder und die interne Zusammenarbeit im Unternehmen erfolgt reibungslos. Diese Faktoren definieren wir in unserem Launch Excellence Framework, das uns hilft, Markteinführungen systematisch zu planen und durchzuführen. Generell kann man sagen: Ein Launch ist dann erfolgreich, wenn man eine innovative Substanz in den richtigen Gesundheitssystemen verankert. Und dazu ist es natürlich ganz entscheidend, zu verstehen, wie ein Gesundheitssystem funktioniert.
Health Relations: Bleiben wir zunächst bei dem Begriff Launch Exzellenz. Können Sie uns den genauer erläutern? Was gehört alles dazu?
Matthias Staritz: Wir führen Launch-Excellence-Studien durch und haben ein Thought Leadership Team gegründet, das systematisch tausende von Produktlaunches im Pharmamarkt der letzten mehr als 20 Jahre untersucht hat. Dieser evidenzbasierte Erfahrungsschatz bildet die Grundlage des Launch Exzellence Frameworks und ermöglicht es uns, Erfolgsfaktoren klar zu identifizieren. Die genannten drei großen Bereiche – das Produkt, die Stakeholder-Ansprache und die interne Zusammenarbeit – bilden die Basis unserer Launch-Strategie und haben sich über viele Projekte hinweg bewährt. Unter jedem dieser Erfolgsfaktoren gibt es zahlreiche Unterpunkte, die wir im Rahmen der Launch Excellence planen und messen.
„Ärztinnen und Ärzte haben aufgrund ihrer begrenzten Zeit im Versorgungsalltag nur Kapazität für klare, relevante Botschaften. Wir müssen informieren, ohne zu stören.“
Health Relations: Vor welchen Herausforderungen stehen Pharmaunternehmen bei einem Produktlaunch bei der Stakeholder-Kommunikation?
Matthias Staritz: Pharmaunternehmen stehen vor der Herausforderung, die unterschiedlichen Bedürfnisse ihrer Stakeholder – wie HCPs, Patienten, Krankenkassen und Gesundheitspolitiker – gezielt anzusprechen und sie zu überzeugen. Jede dieser Gruppen hat eigene, wichtige – aber auch teilweise widersprechende – Interessen und benötigt spezifische Informationen. Ärztinnen und Ärzte haben aufgrund ihrer begrenzten Zeit im Versorgungsalltag nur Kapazität für klare, relevante Botschaften. Evidenzbasierte Informationen sollten klar und zugänglich aufbereitet werden, d.h. Studienergebnisse herunterbrechen und den Nutzen verständlich darstellen. Man muss Informationen anbieten, ohne zu stören – Ärzte haben immer weniger Zeit, also muss sich die Kommunikation an ihren Alltag anpassen.
Auch bei der Ansprache sollten differenziert vorgegangen und individuelle Kommunikationspräferenzen in Bezug auf Kanäle, aber vor allem auch auf Inhalte, berücksichtigt werden. Früher setzte man stark auf den Außendienst, aber heute gibt es viele Kanäle wie Webinare und Videos, die ergänzend genutzt werden können. Es ist wichtig, dass bei der Positionierung des Produktes beim Arzt/der Ärztin, der zusätzliche therapeutische Nutzen für Patienten und Patientinnen gegenüber den derzeitigen Behandlungsoptionen eindeutig herausgestellt wird. Krankenkassen wiederum achten stark auf den evidenzbasierten Zusatznutzen und auf die Kosteneffizienz eines neuen Produkts. Sie müssen den Mehrwert eines Produkts verstehen, nur so kann ein neues Produkt langfristig erfolgreich sein.
Unterschiedliche Strategien für etablierte und innovative Märkte
Health Relations: Inwiefern beeinflusst die Marktstruktur, ob ein Launch erfolgreich ist oder nicht?
Matthias Staritz: Ein nützliches Framework, das ich gerne nutze, ist die Markt- und Innovationsmatrix. Man schaut, ob das Produkt, das man einführt, in einem gut etablierten oder neuen Marktsegment liegt und ob das Produkt selbst eher bekannt oder innovativ ist. Die unterschiedlichen Kombinationen erfordern verschiedene Ansätze. Die gewählte Strategie hängt also stark vom Markt und dem Innovationsgrad des Produkts ab.
Health Relations: Das heißt was für einen Produktlaunch in einem etablierten Markt?
Matthias Staritz:Bei einem etablierten Markt wie Diabetes, wo es bereits viele gute Therapien gibt, muss der Vorteil des Produkts gegenüber der bestehenden Klasse herausgearbeitet werden. Häufig ist der Vorlauf kürzer, da grundlegende Marktkenntnisse und Strukturen bereits vorhanden sind.
„Je innovativer das Produkt, desto länger die Vorbereitungszeit. Bei innovativen Therapien braucht es dafür viel Aufklärung – sowohl bei Ärzten als auch bei Patienten.“
Health Relations: Und bei innovativen Produkten?
Matthias Staritz: Für ein neuartiges Produkt liegt der Schwerpunkt auf umfassender Aufklärungsarbeit: Es müssen Marktkenntnisse aufgebaut, Stakeholder sensibilisiert und gegebenenfalls Infrastrukturen geschaffen werden. Bei stark innovativen Produkten, wie etwa in der Onkologie CAR-T-Zell-Therapien oder zukünftigen Krebszellimpfungen, ist es notwendig, das Produkt erst einmal zu erklären und Vertrauen zu schaffen. Ein ganz neuer Ansatz muss von Grund auf erklärt werden, sowohl den Ärztinnen und Ärzten als auch der Politik und den Krankenkassen sowie den Patienten und Patientinnen und deren Interessensvertretern.
Health Relations:Sie haben Krebszellimpfungen als innovative Therapie in der Onkologie erwähnt. Welche spezifischen Anforderungen stellt der Launch solcher Therapien an die Kommunikation der Pharmaunternehmen?
Matthias Staritz: Bei Krebszellimpfungen geht es darum, das Immunsystem so zu stimulieren, dass es Krebszellen frühzeitig erkennt und gezielt angreift. Wie bei anderen innovativen Verfahren braucht es dafür viel Aufklärung – sowohl bei Ärztinnen und Ärzten als auch bei den Patientinnen und Patienten. Es geht darum, den „Mode of Action“, also den Wirkmechanismus und dessen medizinischen Nutzen, zu erklären und die relevanten Endpunkte der Therapie klarzumachen. Patienten und ihre Ärzte begrüßen nicht automatisch jede neue Therapieoption, gerade in der sehr schwierigen Krankenlage bei Krebs. Solche neuen Therapien erfordern, dass alle Beteiligten im Gesundheitssystem rechtzeitig eingebunden und vorbereitet werden. Und es gilt: Je innovativer das Produkt, desto länger die Vorbereitungszeit.
Frühzeitige Planung als Grundlage für Launch-Erfolg
Health Relations: Gibt es Anhaltspunkte, wie viel Vorlauf ein Launch benötigt? Wie früh muss man mit der Planung beginnen?
Matthias Staritz:Ja, unser Framework beginnt etwa 72 Monate vor dem geplanten Launch. Bei etablierten Produkten reicht oft auch ein halbes Jahr Vorbereitung. Wir müssen frühzeitig überlegen, wie wir die richtigen Endpunkte in Studien berücksichtigen, um sicherzustellen, dass der Nutzen belegt ist. Bei innovativen Produkten ist es besonders wichtig, dass der Markt ausreichend vorbereitet wird und dass alle relevanten Akteure den Mehrwert verstehen. Ein Beispiel ist Alzheimer: Wenn wir ein solches Produkt erst kurz vor dem Launch präsentieren, funktioniert das nicht. Die Aufklärung und das Schaffen eines Verständnisses müssen hier viel früher einsetzen. Das Gesundheitssystem ist auf komplexe, mehrstufige Therapien, bei denen Patienten häufig beim Allgemeinarzt ankommen und dann zum Spezialisten oder in ein Behandlungszentrum weitergeleitet werden, nicht sofort vorbereitet.
„Nicht jeder kann oder sollte alles bekommen; eine gezielte Positionierung der Therapien ist entscheidend, um den Patienten bestmöglich zu helfen.“
Health Relations: Inwiefern, können Sie das erläutern?
Matthias Staritz: Eine kurzfristige Einführung könnte das System überfordern. Man kann nicht jeden Patienten, vermutlich wären das sehr viele, zu einem Spezialisten schicken, der ohnehin keine freien Termine hat. Deshalb ist es wichtig, klare Versorgungswege oder „Patientenströme“ zu etablieren. Die Industrie kann dabei helfen, eine klare Struktur zu schaffen: Wer sollte wohin überwiesen werden, für wen ist eine bestimmte Therapie wirklich geeignet? Es geht darum, präzise herauszuarbeiten, welche Behandlungen für welche Patientengruppen sinnvoll sind. So könnten viele „An-Behandlungen“ und verfehlte Therapien eingespart werden. Nicht jeder kann oder sollte alles bekommen; eine gezielte Positionierung der Therapien ist entscheidend, um den Patienten bestmöglich zu helfen.
Health Relations:Es kann auch vorkommen, dass ein Launch kurzfristig gestoppt wird. Haben Sie ein Beispiel hierfür?
Matthias Staritz:Ja, das kommt tatsächlich vor. Wir sehen manchmal, dass Launches in letzter Minute abgeblasen werden – etwa dann, wenn ein anderes Produkt schneller auf den Markt kommt und den neuen Standard of Care setzt. Ein gutes Beispiel dafür sind Hepatitis-C-Therapien, bei denen Produkte bereits in den Startlöchern standen, aber dann gestoppt wurden, weil eine andere Therapie den bisherigen Standard klar überholt hat. Und das hat heutzutage jeder verstanden. Die forschende Pharmaindustrie weiß, es gibt nur Geld für gute Produkte.
„Viele Unternehmen sprechen heute lieber von externen Experten statt von KOLs, weil sie darauf Wert legen, dass es unabhängige Meinungsbilder sind.“
Health Relations:Welche Rolle spielen Key Opinion Leader (KOL) im Zusammenhang mit einem Produktlaunch?
Matthias Staritz: Viele Unternehmen sprechen heute lieber von externen Experten statt von KOLs, weil sie darauf Wert legen, dass es unabhängige Meinungsbilder sind. Diese Expertinnen und Experten sind oft wissenschaftlich anerkannte Personen, die überzeugt davon sind, dass ein neues Präparat einen echten Mehrwert hat. Wenn sie in Veranstaltungen oder der wissenschaftlichen Community darüber sprechen, schafft das Glaubwürdigkeit. Sie treten als Advokaten und Multiplikatoren für das neue Produkt auf und bringen ihre fachliche Unterstützung ein. Für uns ist es entscheidend, dass Experten das Produkt authentisch weiterempfehlen und dass dies auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse geschieht. Auf der anderen Seite werden solche Experten – gerade bei innovativen Therapien – auch in der Preissetzung als Meinungsbildner hinzugezogen.
Strukturierte Versorgungspfade für Patienten
Health Relations: In den letzten zwei Jahren wurden in Deutschland neue Arzneimittel zur Behandlung von Adipositas zugelassen. Der Launch dieser Präparate hat großes Interesse in der Bevölkerung geweckt und gleichzeitig einen großen Aufklärungsbedarf aufgezeigt. Welche Verantwortung sehen Sie für die Pharmaindustrie im Bereich Adipositas?
Matthias Staritz:Die Zahlen zeigen uns, wie weit verbreitet Adipositas ist, und unterstreichen, dass es sich hierbei um ein globales Problem handelt. In Deutschland sind rund zwei Drittel der Männer und die Hälfte der Frauen übergewichtig. Adipositas wird häufig noch immer als persönliche Schwäche angesehen, dabei ist es eine ernstzunehmende Krankheit, die oft in Zusammenhang mit anderen chronischen Erkrankungen wie Diabetes oder Herz-Kreislauf-Leiden steht. Wir sehen es als unsere Aufgabe, das Verständnis für Adipositas als Krankheit zu fördern, um die Akzeptanz für eine pharmazeutische Behandlung zu schaffen. Es ist eine komplexe Krankheit mit vielen Ursachen, die das Gesundheitssystem stark belastet.
„Pharma muss klare Patient Pathways etablieren, damit Betroffene wissen, an wen sie sich wenden können und welche Behandlungsmöglichkeiten bestehen.“
Health Relations: Sie sprachen anfangs davon, dass es wichtig ist zu verstehen, wie das Gesundheitssystem funktioniert. Am Beispiel Obesity, wie funktioniert unser Gesundheitssystem und welche Rolle kann Pharma dabei spielen, es zu verbessern?
Matthias Staritz: Eine große. Die Pharmaindustrie kann unterstützen, um gemeinsam mit dem Gesundheitssystem funktionierende und zugängliche Versorgungspfade für Adipositas-Patienten zu schaffen. Ein wichtiger Teil davon ist die Etablierung klarer Patient Pathways, damit Betroffene wissen, an wen sie sich wenden können und welche Behandlungsmöglichkeiten bestehen. Es muss eine entsprechende Infrastruktur geben, in der Patientinnen und Patienten Zugang zu Adipositas-Behandlungen haben. Dies erfordert die Zusammenarbeit mit Krankenhäusern, dem niedergelassenen Bereich und den Krankenkassen, um die Versorgung sicherzustellen und die Behandlungen finanzierbar zu machen. Langfristig geht es darum, die Erkrankung in der Grundversorgung zu behandeln. Wir müssen eine Balance finden zwischen Innovation und Bezahlbarkeit. Dafür sind eine gute Infrastruktur und die Zusammenarbeit mit der Politik entscheidend.