Wie kann Medizin nachhaltiger gestaltet werden? Die Digitalisierung spielt hierbei eine zentrale Rolle. In unserer Kolumne "CONNECTED" hat sich Dr. Gerd Wirtz Gedanken zum Thema Nachhaltigkeit gemacht.
Neulich war ich auf der Jahrestagung eines Pharmaunternehmens mit meiner Keynote "Digitale Medizin New Life, New Work" zu Gast. Als ich zum Thema E-Health kam, zeigte ich den Teilnehmern einen Berg, der 35 km hoch ist. Meine Frage an die Gäste dazu lautete: Woraus besteht dieser Berg, an dem alle deutschen Ärzte fleißig mitarbeiten? Die Antwort: 70 Millionen Krankmeldungen, die pro Jahr in Deutschland in 4-facher Ausfertigung geschrieben werden, führen übereinandergelegt zu diesem Berg.
Das brachte uns nach dem Vortrag zu einer spannenden Diskussion über
Nachhaltigkeit im deutschen Gesundheitswesen. Eine Diskussion, die aus meiner Sicht in der Öffentlichkeit viel zu wenig geführt wird. Wenn man nach Veröffentlichungen zum Thema Nachhaltigkeit sucht, dann findet man nur sehr wenig Ergebnisse. Nachhaltigkeit und Medizin werden kaum in Verbindung gebracht. Ist die Medizin so eine „saubere“ Branche, dass man darüber gar nicht nachdenken muss?
CONNECTED – die digital-kolumne
Jeden Monat thematisiert Dr. Gerd Wirtz hier die Digitalisierung der Medizin. In seiner Kolumne stellt er die Facetten des digitalisierten Healthcare-Kosmos vor. Die kleinen Geschichten, die skurrilen Begegnungen und die großen Fragen. Digital gedacht, menschlich betrachtet. Immer auf den Punkt und augenzwinkernd kommentiert.
Nachhaltigkeit wird häufig als relativ „junges“ Trendthema angesehen, existiert aber eigentlich schon sehr lange. Formuliert wurde der Begriff bereits 1713 von dem Kammer- und Bergrat Hans Carl von Carlowitz. Ihm ging es angesichts der damaligen Holzknappheit darum, dass immer
nur so viel Holz geschlagen werden darf, wie durch Aufforstung wieder nachwachsen kann. Ein Prinzip, das bis heute Gültigkeit hat. Das englische Wort für "nachhaltig" lautet „sustainable“, was sich von „to sustain“ ableitet und mit „aushalten“ beziehungsweise „ertragen“ übersetzt wird. Wie also muss die Medizin ausgeübt werden, damit Lebewesen und die Umwelt sie möglichst lange aushalten? Medizin kann in verschiedenen Dimensionen nachhaltiger gestaltet werden und bei allen spielt
Digitalisierung eine wichtige Rolle.
Die
Einsparung von Papier ist sicher einer der offensichtlichsten Aspekte. Wenn der Berg der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen sich schon auf 35 km anhäuft, dann ist kaum vorstellbar, wie hoch er ist, wenn wir alle Rezepte und Patientenakten sowie ausgedruckte Faxe dazu zählen.
Mit dem täglichen
Stromverbrauch eines MRT können wir etwa 100 Haushalte mit Strom versorgen. Schon 2013 zitierte die
Ärztezeitung eine kanadische Studie, die zeigte, dass etwa die Hälfte aller MRT Untersuchungen überflüssig oder zumindest fragwürdig ist. Dazu kommt, dass durch fehlende zentrale Erfassung viele MRT Untersuchungen mehrfach durchgeführt werden, weil die Dokumentationen früherer Untersuchungen nicht auffindbar sind. Die viel zitierte
e-Patientenakte und eine KI-gestützte Bedarfsanalyse von Untersuchungen könnten zu enormen Einsparungen führen.
Zeitmangel steht in unmittelbarem Zusammenhang mit zentralen
Erfassungen von Patientendaten. Dies ist eine der Hauptursachen, warum Ärzte in ihrem Beruf unzufrieden und gestresst sind. Wenn also in Zukunft immer weniger Menschen diesen Beruf ausüben möchten, haben wir ein echtes Ressourcenproblem.
Ein eindrucksvolles Beispiel hat letztens Professor Claudia Bozzaro im
Interview mit der TK geschildert. In der Medizin werden derzeit
Antibiotika häufiger eingesetzt, als es nötig und sinnvoll ist. Andererseits prognostizieren Experten, dass im Jahr 2050 Erkrankungen durch antibiotikaresistente Keime die häufigste Todesursache in Europa sein werden. Damit werden Antibiotika eine nachhaltige Ressource für die Zukunft und müssen deshalb jetzt mit großer Weitsicht eingesetzt werden.
Unsere Aufgabe ist es also, nachhaltig Therapien zu planen, sodass sie nicht nur der heutigen Generation, sondern auch zukünftigen Generationen nutzen. Das Essener Universitätsklinikum ist diesen Schritt bereits gegangen. Der Direktor Professor Jochen Werner ist als Wegbereiter für angewandte Digitale Medizin in Deutschland bekannt. Die von ihm geführte Universitätsklinik gilt als eines der fortschrittlichsten „Smart Hospitals“ in Europa (
Health Relations berichtete). Im "Handelsblatt Journal" hat er als wichtigstes Zukunftsziel für seinen Verantwortungsbereich die Etablierung des
„Green Hospital“ benannt und erkannt, dass das nicht nur ein Thema der Politik, sondern auch der handelnden Akteure im Gesundheitswesen ist. Deshalb hat er eine ganze Arbeitsgruppe, das „Team Green“, etabliert, das sich diesem Thema widmet.
Recht hat er und wir sollten seiner Vorbildfunktion folgen. Nachhaltigkeit in der Medizin hat viele Dimensionen und wird uns alle in seiner Komplexität fordern. Allerdings ist das Gesundheitswesen DIE Wachstumsbranche der Zukunft und deshalb sollte „Grüne Medizin“ bei allen Beteiligten ganz oben auf der Agenda stehen.