Künstliche Intelligenz erkennt relevante Muster in riesigen Datenmengen, dadurch können die Entwicklungszyklen neuer Medikamente stark beschleunigt werden. Voraussetzung: Die Daten liegen in entsprechender Qualität vor. Hierüber hat Health Relations mit Matthieu-P. Schapranow vom Hasso-Plattner-Institut gesprochen.
In bisher nie dagewesener Form können Daten z.B. aus Moleküldatenbanken und Literatur durch KI durchsucht und verknüpft werden. Doch nicht alle für die Pharmaforschung relevanten Daten liegen in ausreichender Form und Qualität vor. Häufig mangelt es bislang an verbindlichen Standards bei der Erfassung z.B. von Real-World-Daten und an einer Interoperabilität der Datensätze. Und nicht zuletzt ist eine Bereitschaft von Patient:innen sowie Unternehmen, ihre Daten unternehmens- und grenzüberschreitend zu teilen, notwendig. Health Relations: Damit möglichst viele Daten in den Systemen vorhanden sind, müssten Unternehmen bereit sein, ihre Daten zu teilen. Ist diese Bereitschaft vorhanden?Schapranow: Das Teilen von Daten über Unternehmensgrenzen hinweg ist ein sehr guter Ansatz. Aber dazu müssen bereits vorhandene Daten erstmal auffindbar werden. Hierzu wurden die FAIR-Prinzipien (Findable, Accessible, Interoperable, Re-usable) erdacht. Durch das systematische Erstellen und Veröffentlichen von sog. data dictionaries würden sozusagen Datenangebot und Datennachfrage zusammengebracht werden. Ein solches Vorgehen wird bei aktuellen und künftigen datenintensiven Projekten vor allem von geförderten Forschungsprojekten gefordert; bestehende Datenquellen werden oft nur durch persönliches Engagement und die Initiative einzelner zugänglich.
"Pharmaunternehmen sind sich bewusst, dass viele der heutigen Herausforderungen allein nur schwer zu meistern sein werden."
Health Relations: Inwiefern könnte das Teilen von Daten zu einem Wettbewerbsnachteil für einzelne Pharma- und Biotech-Unternehmen führen – und behindert das dann nicht die Idee des Ausbaus einer gemeinschaftlichen Datennutzung massiv?Schapranow: Pharmaunternehmen sind sich bewusst, dass viele der heutigen Herausforderungen allein nur schwer zu meistern sein werden. Daher ist das Teilen von Daten schon lange integraler Bestandteil. So wurden bspw. bereits vor Jahren Daten aus klinischen Studien übergreifend für wissenschaftliche Zwecke zugänglich gemacht. Wenn forschende Arzneimittelunternehmen ihre Expertise in einem speziellen Bereich bündeln, können sie ihre Standortvorteile nutzen und gemeinsam schneller zum Ziel kommen.
Health Relations: Das Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) soll Pharma den Zugang zu pseudonymisierten Gesundheitsdaten für Forschungszwecke erleichtern. Wie schätzen Sie hier die Bereitschaft der Bevölkerung ein? Hat ein "Umdenken" bei Patient:innen stattgefunden? Schapranow: Europäerinnen und Europäer haben in mehreren Umfragen (z.B. Bertelsmann-Stiftung, Vodafone-Institut) ihre überwiegende Bereitschaft erklärt, ihre eigenen Gesundheitsdaten für Forschungszwecke zugänglich zu machen. Vor allem chronisch Kranke oder Personen, die an komplexen Krankheit leiden, teilen schon lange ihre Daten, z.B. über Online-Plattformen wie PatientsLikeMe.com, um die Erforschung von Erkrankungen voranzutreiben. Und das oftmals selbst ohne Rücksicht auf speziellen Datenschutz. Hier schafft das GDNG Konkretisierungen, v.a. rechtliche Rahmenbedingungen, für den Zugang und die datenschutzkonforme Nutzung von Versorgungsdaten und Daten der Krebsregister in pseudonymisierter Form. Die Nutzung deutscher Versorgungsdaten für Forschungsvorhaben war bereits in der Vergangenheit rechtskonform möglich, jedoch war es oft sehr komplex und zeitaufwendig für Forschende, Zugang zu Daten zu erhalten. Mit dem GDNG kommt dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) eine zentrale Rolle als Zugangs- und Koordinierungsstelle zu, vergleichbar mit einem Auskunftsdienst, um schneller passende Datenquellen zu identifizieren und diese auch rechtssicher nutzen zu können. Health Relations: Im Vergleich dazu – wie ist der Umgang mit Daten im europäischen Ausland geregelt?Schapranow: In anderen europäischen Ländern, wie z.B. Schweden, sind die meisten der Registerdaten bereits digital und es gibt etablierte Prozesse für deren Nutzung als Forschungsdaten.

Arzneimittelforschung mit künstlicher Intelligenz

Künstliche Intelligenz kann die Entwicklung von Arzneimitteln beschleunigen und personalisierte Medizin in der Breite fördern. Hierüber informiert ein Whitepaper der "Plattform Lernende Systeme", an dem Matthieu-P. Schapranow als Autor mitgewirkt hat. Darin heißt es, dass mithilfe von KI riesige Datenmengen systematisch analysiert und umfangreiches Wissen schnell ausgewertet werden können. So können binnen kurzer Zeit passende Wirkstoffziele und -kandidaten identifiziert, präzisere Vorhersagen über Nebenwirkungen gemacht und die chemische Synthese zur Herstellung von Wirkstoffen optimiert werden. Zudem erleichtert KI die Auswahl und das Monitoring von Probanden in klinischen Studien sowie den Zulassungsprozess.
Health Relations: Qualitativ gute Daten sind Voraussetzung für eine Auswertung durch KI. Die Potenziale von künstlicher Intelligenz für die Arzneimittelforschung sind vielfältig. Gibt es einen Bereich, in dem der Einsatz schon besonders weit verbreitet ist?Schapranow: Im Alltag nutzen wir schon heute oftmals KI-Anwendungen ganz selbstverständlich, obwohl wir sie selbst gar nicht als solche wahrnehmen, z.B. Kaufempfehlungen beim Online-Shopping oder Routenoptimierung bei verschiedenen Verkehrsmitteln. Im Bereich der Arzneimittelforschung finden sich heute schon viele KI-Anwendungen in der Grundlagenforschung, z.B. mittels Sprachmodellen (Large Language Models) und Natural Language Processing (NLP) bei der Identifikation relevanter Forschungsarbeiten und Publikationen, beim Verständnis von molekulargenetischen Veränderungen in der Krebstherapie, oder bei der Optimierung von Proteinstrukturen.
"Die Anwendung von KI-Verfahren kann in der Arzneimittelentwicklung auf vielfältige Weise helfen."
Health Relations: Wo sehen Sie zurzeit das größte Potenzial für die KI-gestützte Arzneimittelentwicklung und warum?Schapranow: Die Anwendung von KI-Verfahren kann in der Arzneimittelentwicklung auf vielfältige Weise helfen. Vielversprechende Einsatzbereiche sind die Priorisierung aussichtsreicher Targets bei der Wirkstoffentwicklung sowie die Identifizierung weiterer Anwendungsgebiete (secondary use) bereits zugelassener Wirkstoffe. So können wertvolle Entwicklungszeit und -kosten reduziert werden und zugleich bestehende Ressourcen – Stichwort Fachkräftemangel – effizienter genutzt werden.

Zur Person

Dr.-Ing. Matthieu-P. Schapranow leitet am Hasso-Plattner-Institut für Digital Engineering den Bereich Digital Health Innovationen. Er ist Mitglied der Arbeitsgruppe Gesundheit, Medizintechnik, Pflege der "Plattform Lernende Systeme".

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