Dr. med. Markus Müschenich ist Managing Partner von Eternity.Health und gilt als Spezialist für die Medizin der Zukunft. Er glaubt, das Thema Nachhaltigkeit ist für die Pharmabranche eine gute Chance, neue spannende Business Modelle zu entwickeln.
In diesem Beitrag erfahren Sie:Health Relations: Sie sagen, beim Thema Green Health sind die Pharmaunternehmen besonders gefragt. Warum?Dr. med. Markus Müschenich: Die Pharmaindustrie ist eine der ersten, für das Thema Nachhaltigkeit nicht nur viel Aufwand ohne Wertschöpfung bedeutet. Gedacht als „Green Health“ tun sich hier vielmehr interessante neue Business-Modelle auf. Bisher hat die Branche vor allem damit geworben, dass man Fotovoltaik auf die eigenen Gebäude setzt, auf Druckerpapier verzichtet, oder dafür sorgt, dass Mitarbeitende mit dem Fahrrad zur Arbeit kommen. Doch das reicht bei weitem nicht aus! Um nachhaltig zu sein, müssen sich Pharmafirmen ihre Lieferketten anschauen und sich Fragen stellen wie: Unter welchen Bedingungen werden in den Produktionsländern Medikamente hergestellt und welche Emissionen entstehen in der Wertschöpfungskette bis das Medikament den Patienten erreicht? In Indien wird beispielsweise bei der Antibiotika-Herstellung das Wasser so belastet, dass darin signifikante Wirkmengen der Medikamente feststellbar sind und auch die häufige Belieferung von Apotheken ist alles andere als nachhaltig. Pharmafirmen werden sich damit beschäftigen und nachhaltigere Prozesse schaffen müssen.
Health Relations: An welchem Punkt betrifft Nachhaltigkeit die Business-Modelle der Pharmaindustrie?Dr. med. Markus Müschenich: Im Juni 2021 gab es den ersten Rabattvertrag, der Nachhaltigkeitskriterien eingeschlossen hat. Der Nachweis, dass im Herstellungsland auf sauberes Produktionsabwasser geachtet wird, war der Krankenkasse einen Bonus wert. Und schon sind wir an einem Punkt für ein interessantes Business Modell.
Health Relations: Gibt es weitere Bereich, in die die Nachhaltigkeit Einzug hält?Dr. med. Markus Müschenich:Es gibt verschiedene Themen, die Nachhaltigkeit betreffend, die im Rahmen der Wertschöpfungskette stattfinden. Denn bevor ein Medikament zu den Patient:innen kommt, hat es eine weite Reise hinter sich. Das beginnt beim Grundstoff, der in einer Fabrik hergestellt, aber in einem anderen Werk zu einer Tablette geformt wird. Danach wird die Tablette in einem Blister, bestehend aus
Plastik und Aluminiumfolie, verpackt. Zum Teil werden diese Blister in eine andere Fabrik gebracht, wo sie in eine Papierverpackung zusammen mit einem Beipackzettel kommen. Anschließend geht das Ganze in den Großhandel und von dort werden Apotheken bis zu sechsmal am Tag beliefert. Diese Wege verbrauchen sehr viel Kohlendioxid. Für echte Nachhaltigkeit müssen hier klimafreundlichere Alternativen geschaffen werden. Zahlen des National Health Services zeigen, dass die Medikamentenproduktion für rund 20 Prozent der CO₂-Emissionen im Gesundheitswesen verantwortlich ist.
"Die Pharmaindustrie ist eine der ersten, für das Thema Nachhaltigkeit nicht nur viel Aufwand ohne Wertschöpfung bedeutet."
Health Relations: Welche Erwartungen haben Sie für die Branche? Was wird auf sie zukommen?Dr. med. Markus Müschenich: Ich kann mir Verschiedenes vorstellen: Es ist denkbar, dass sich die Industrie freiwillig verpflichtet, die CO₂-Emissionen, die bei der Herstellung eines Medikaments entstehen, auf die Verpackung zu drucken. Aus dem Markt ist zu hören, dass sich die ersten Pharmaunternehmen schon darauf vorbereiten. Sie wollen das als Wettbewerbsvorteil nutzen und letztlich hätte das auch Auswirkungen auf das Marketing, denn ein besonders klimafreundliches Produkt lässt sich auch besser verkaufen – vor allem sind Kund:innen bereit, für mehr Nachhaltigkeit auch tiefer in die Tasche zu greifen. Mit Nachhaltigkeit kann man also durchaus gutes Marketing betreiben und von den Verbraucher:innen wird auch noch ein höherer Preis akzeptiert.
"Im Idealfall sollte es Spaß machen, darüber nachzudenken, wie unser Gesundheitswesen nachhaltiger werden kann."
Health Relations: Sie sprachen eben von einer freiwilligen Verpflichtung der Pharmaunternehmen zur Angabe der entstandenen CO₂-Emissionen. Was passiert denn, wenn die Firmen das nicht aus eigenem Antrieb heraus tun?Dr. med. Markus Müschenich:Ich gehe davon aus, dass das dann über kurz oder lang der Gesetzgeber einfordern wird. Wenn das passiert, könnte auch etwas eingeführt wird, das in der Automobilindustrie „Flottenziel“ heißt. Damit ist gemeint, dass ein Pharmaunternehmen die Erlaubnis erhält, eine gewisse Menge CO₂ zu emittieren. Die Firmen müssen zusehen, dass sie diese nicht überschreiten. Wird also ein Medikament produziert, das besonders viel Emissionen zur Folge hat, muss an anderer Stelle eingespart
werden.
Zahlen und Fakten
Das Gesundheitswesen für mehr Emissionen verantwortlich als Schifffahrt und Flugverkehr zusammen. In Deutschland kommt der Gesundheitssektor auf 70 Millionen Tonnen CO₂-Äquivalenten. Das entspricht 5,2 Prozent der Gesamtemissionen (Lancet Policy Brief 2019). Ein kleiner Trost: Das liegt auch daran, dass das deutsche Gesundheitswesen so ausgeprägt und die Versorgung damit gut ist. Laut Statista kam die chemisch-pharmazeutische Industrie in Deutschland im Jahr 2020 auf einen CO₂-Ausstoß von rund 38,9 Millionen Tonnen.
Eine weitere spannende Frage wird sein, wie die Pharmaindustrie ihr überschüssiges CO₂ kompensieren wird. Bislang geschieht dies häufig über freiwillige Zertifikate und nicht selten steht dahinter die Aufforstung von Wäldern in Südamerika. Diese Variante der Kompensation wird spätestens dann in Verruf kommen, wenn der erste fragt, seit wann Baumpflanzungen von der Krankenkasse, die eben die Kosten für die Medikamente übernimmt, bezahlt werden. Im Moment werden Kompensationsmechnismen entwickelt, die speziell für das Gesundheitswesen geeignet sind und die Gelder der Solidargemeinschaft nicht unangemessen in Anspruch nehmen. In jedem Fall kann die Pharmaindustrie die Produktion von CO₂-reduzierten, weil z.B. regional produzierten Medikamenten vorantreiben. Denkbar ist auch, dass digitale Anwendungen, vielleicht DiGA oder andere nachweislich CO₂ einsparende Anwendungen, verrechnet werden. Möglicherweise kommen auch nur sogenannte „digital drugs“ dafür infrage.
Health Relations: Was sind „digital drugs“ und können Sie ein Beispiel nennen?Dr. med. Markus Müschenich: Diese Medikamente arbeiten nur auf Software-Basis und funktionieren über die Stimulation des Gehirns oder spezieller Nerven. Ein Beispiel: Das Unternehmen Dopavision entwickelt gerade das Medikament Myopia X gegen Kurzsichtigkeit. Es wirkt über spezielle Lichtreize auf Netzhautzellen. Die Lichtreize lösen die Ausschüttung von Botenstoffe aus, die dafür sorgen sollen, dass die Kurzsichtigkeit nicht weiter fortschreitet. Diese ist besonders im Kindesalter gefährlich, weil die Ursache der Kurzsichtigkeit ein zu langer Augapfel und, wenn dieser unkontrolliert weiterwächst, kann das ein Reißen der Netzhaut zur Folge haben kann. Das wiederum führt zu Blindheit. Ein weiteres Beispiel ist die DosePair Technologie zur Behandlung von Depressionen, dass das Unternehmen Neuraltrain entwickelt. Diese Art Medikamente haben eine extrem niedrige CO₂-Last, weil sie nicht konventionell produziert, befördert oder verpackt werden müssen. Sie werden vielmehr über das Internet gestreamt. Das Beispiel zeigt, dass Nachhaltigkeit in der Pharmaindustrie zu vielen guten Business-Modellen führen kann. Außerdem müssen wir Nachhaltigkeit aus dem Verzichtkontext herausnehmen. Nachhaltigkeit heißt nicht, dass wir etwas verlieren, wir können dabei viel mehr gewinnen. Im Idealfall sollte es Spaß machen, darüber nachzudenken, wie unser Gesundheitswesen nachhaltiger werden kann.