Mit KI wird die Arzneimittelentwicklung beschleunigt, effizienter und individueller gestaltet. Durch die intelligente Verknüpfung von Daten können große Fortschritte in der medizinischen Forschung erzielt werden – zum Vorteil von Patient:innen. Das bietet auch neue Optionen fürs Pharmamarketing.
Das Zukunftsszenario könnte so aussehen: Patient:innen profitieren von günstigeren Arzneimittelpreisen und innovativen Medikamenten, die Pharma- und BioTech-Unternehmen dank KI kostengünstig produzieren. Der jahrelange Entwicklungsprozess von der Idee bis zur Zulassung wird verkürzt, denn KI erkennt aus riesigen Datenmengen relevante Muster und hilft mit systematischen Analysen relevanter Datenbanken zum Beispiel dabei, den geeigneten Wirkstoffkandidaten herauszufinden. Doch auf dem Weg dorthin müssen noch einige Hürden genommen werden: Teils fehlen Regularien, teils sind Daten nicht verfügbar. In einem umfassenden Whitepaper hat die "Plattform Lernende Systeme" aufgezeigt, welches enorme Potenzial künstliche Intelligenz für die Entwicklung von Arzneimitteln hat. Einer Marktanalyse von Bekryl Market Analysis zufolge kann KI bis 2028 zeitliche und finanzielle Einsparungen von 25 bis 50 Prozent in der Arzneimittelentwicklung ermöglichen. Schon heute zeigt ein Beispiel aus den USA: Das BioTech-Unternehmen Insilico Medicine konnte dank KI-Unterstützung bis zur präklinischen Phase einen Wirkstoffkandidaten gegen Fibrose für 850.000 US-Dollar entwickeln – im Vergleich zu 664 Mio. US-Dollar in der klassischen Entwicklung.

Welche Einsatzmöglichkeiten bietet KI in der Arzneimittelforschung?

Es gibt diverse Möglichkeiten, wie KI in der Arzneimittelforschung eingesetzt werden kann, die einzelnen Phasen der Wirkstoffentwicklung ändern sich dadurch nicht grundlegend, sie können jedoch beschleunigt werden. Einige Beispiele:
  1. Datenbank-Analysen: Zur Auswahl des Wirkstoffziels kann mit KI eine automatisierte Analyse bestehender Datenbanken durchgeführt werden. Das betrifft nicht nur Literaturdatenbanken, sondern bspw. auch Gen- oder Proteindatenbanken. Dies ist besonders relevant, da die Menge an wissenschaftlichen Daten für den Menschen kaum mehr nachvollziehbar ist.
  2. Sprachmodelle in der Medizin: Google hat das Large-Language-Modell Med-PalM entwickelt, das medizinische Fragen beantwortet und 2023 den medizinischen Zulassungstest in den USA bestand. In diesem Modell können auch relevante Gene für bestimmte Krankheiten textbasiert und intuitiv abgefragt werden.
  3. Erstellung von Wissensgraphen: Wissensgraphen sind netzartige Darstellungsweisen aller Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge und Wechselwirkungen im Körper auf molekularer Ebene im Zusammenhang mit einer Krankheit.  Vor allem bei komplexen Krankheitsbildern wie Krebs und neurodegenerativen Krankheiten liefern Wissensgraphen einen Mehrwert, um beispielsweise Wirkstoffziele erfassen zu können.
  4. Erstellung von 3D-Strukturen von Targets: Wurde in der ersten Phase der Wirkstoffentwicklung ein Target identifiziert, kann mit künstlicher Intelligenz eine 3D-Struktur davon erstellt werden, um mögliche Angriffspunkte für Wirkstoffe zu bestimmen.
  5. Auswahl der Wirkstoffstruktur: KI wertet verfügbare Datenbanken aus, um nach passenden Wirkstoffen zu suchen.  Vor allem zu niedermolekularen Strukturen existieren umfangreiche Datenbanken zu relevanten Stoffeigenschaften. In einem virtuellen Screening hilft die KI-Technologie, die Interaktion potenzieller Wirkstoffkandidaten mit dem geplanten Target zu prognostizieren.
  6. Repurposing: Dank KI könnten bereits zugelassene Wirkstoffe für andere Anwendungsmöglichkeiten identifiziert und geprüft werden.
  7. Generierung neuer Strukturvorschläge: Generative KI ermöglicht aber auch komplett neue Strukturen zu erstellen, auf Basis einer Bibliothek von möglichen Strukturbausteinen. Beispielsweise haben Novartis und Microsoft hierzu eine Software ("MoLer") entwickelt.
  8. Klinische Studien: KI unterstützt bei der Auswertung und Sortierung von Studiendokumentationen und wählt Patient:innen intelligent auf Basis von Biomarkern aus. Während der Studie kann KI-unterstütztes Monitoring von Proband:innen helfen, die Ausfallrate zu reduzieren und damit die Erfolgschancen der Studie zu steigern.
  9. Digitaler Zwilling in klinischen Studien: Mit den verfügbaren medizinischen Daten werden klinische digitale Zwillinge der Teilnehmenden, also ihr virtuelles Abbild, erstellt. Nun kann beispielsweise ein virtueller Kontrollarm für eine Studie erstellt werden. Die Ergebnisse der Kontrollgruppe können KI-basiert vorhergesagt werden, wodurch die Gesamtkosten deutlich reduziert werden.
  10. Zulassung: KI unterstützt bei der Erstellung und Prüfung von Zulassungsdokumenten. Sie kann auch den Medical Writer bei der Erstellung von Studienberichten unterstützen.
  11. Marktbeobachtung & Pharmakovigilanz: Durch retrospektive Real-World-Studien mit KI-basiert identifizierten Kontrollgruppen können Daten effizienter ausgewertet werden. Unerwünschte Wirkungen von Arzneimitteln oder andere Probleme werden frühzeitig erkannt.
Matthieu-P. Schapranow, Hasso-Plattner-Institut

Matthieu-P. Schapranow © Hasso-Plattner-Institut

Die Einsatzmöglichkeiten für KI in der Pharmaforschung scheinen nahezu unbegrenzt. Gibt es einen Bereich, der ein besonders großes Potenzial aufweist? "Vielversprechende Einsatzbereiche sind die Priorisierung aussichtsreicher Targets bei der Wirkstoffentwicklung sowie die Identifizierung weiterer Anwendungsgebiete bereits zugelassener Wirkstoffe. So können wertvolle Entwicklungszeit und -kosten reduziert werden und zugleich bestehende Ressourcen – Stichwort Fachkräftemangel – effizienter genutzt werden", sagt  Matthieu-P. Schapranow. Er ist Scientific Manager Digital Health Innovations am Hasso-Plattner-Institut für Digital Engineering gGmbH und Mitautor des Whitepapers der "Plattform Lernende Systeme".

Was bedeutet die KI-basierte Arzneientwicklung fürs Pharmamarketing?

Wenn Pharmaunternehmen künftig dank KI Arzneimittel schneller und effizienter auf den Markt bringen können, wird auch die Marketingstrategie der Unternehmen agiler werden. Eine stärker personalisierte Medizin ermöglicht es, Zielgruppen spezifischer anzusprechen. Die Unternehmensreputation bei Fachzielgruppen kann gesteigert werden, wenn beispielsweise innovative Studiendesigns, bessere Sicherheitsprofile von Medikamenten oder neue Möglichkeiten, Nebenwirkungen frühzeitig zu entdecken, gut kommuniziert werden. Kommuniziert werden kann auch, wie KI Ärzt:innen unterstützt, optimale Behandlungsstrategien auf Grundlage der gewonnenen Daten zu entwickeln. Pharmaunternehmen haben die Chance, sich hier als Thought Leader und Innovationstreiber zu positionieren. Die Patientenkommunikation wird in diesem Zuge womöglich noch wichtiger werden. Marketingkampagnen könnten die Vorteile der neuen Technologie betonen, beispielsweise, dass Patient:innen schneller Zugang zu neuen Therapien erhalten, weil die Entwicklungszeiten für neue Medikamente sich deutlich verkürzen. Die Möglichkeit, komplexe Krankheitsbilder mithilfe von KI besser zu verstehen und zielgerichteter zu behandeln, stärkt das Image der entwickelnden Pharmaunternehmen als Anbieter innovativer Gesundheitslösungen.

Über die ,Plattform Lernende Systeme'

In der "Plattform Lernende Systeme" haben sich rund 200 Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Unternehmen zusammengeschlossen und erarbeiten in verschiedenen Arbeitsgruppen u.a. Szenarien und Empfehlungen für einen verantwortungsvollen Einsatz Lernender Systeme. Nach eigenen Angaben möchte die Plattform unterschiedliche Perspektiven bündeln, Kooperationen in Forschung und Entwicklung anregen und Deutschland als führenden Technologieanbieter für Lernende Systeme positionieren. Vorsitzende des Lenkungskreises sind Bettina Stark-Watzinger, Bundesministerium für Bildung und Forschung, und Jan Wörner, acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften.

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